Bewertung: *****

Die internationale Kritik stapelt hoch: "The Irishman" sei Martin Scorseses bester Film der letzten 30 Jahre. Oder: Vielleicht sogar sein bester. Und in "Variety" war nachzulesen, dass der Film "von meisterhafter Präzision sei" und "tief in das Innere seines Motivs eintauche: das dunkle Herz der Macht". Tatsächlich: Das 210-Minuten lange Gangsterepos ist keinen Deut zu lang. Scorsese lässt sich viel Zeit, in sein Mafia-Universum mitsamt detailverliebtem Setting und aufregender Figurenzeichnung einzuführen.

Was will uns dieser Regisseur eigentlich noch über Mafiamorde erzählen, was er nicht schon in "GoodFellas" oder "Departed" als Leinwandorgie angerichtet hat?

Eines vorweg: viel. Die Kamera nimmt im Rollatortempo Fahrt auf und landet mitten im Gesicht von Frank Sheeran (Robert De Niro). Er sitzt, ergraut und runzelig, in einem Altenheim und erinnert sich eingangs an sein Leben als Lkw-Fahrer, Vater, Auftragskiller und Mann fürs Grobe. Er hat zeitlebens viele Häuser angestrichen und Tischlerarbeiten verrichtet. Im Mafia-Slang heißt das so viel wie: Er hat Morde verübt und Leichen beseitigt.

Die Geschichte von "The Irishman" basiert auf dem Buch "I Heard You Paint Houses" aus dem Jahr 2004, das auf Berichten des irischstämmigen Mafioso Frank Sheeran beruht. Der hatte unter anderem behauptet, den legendären Gewerkschafter Jimmy Hoffa (Al Pacino) ermordet zu haben. Kleine Notiz am Rande: Der echte Frank Sheeran soll mit Popstar Ed Sheeran verwandt sein.

Der Regisseur Scorsese kehrt mit Robert De Niro an den Ausgangspunkt ihrer Karrieren zurück: in den Stadtteil Little Italy in New York. Es ist ein raues Leben voller Pistolen, rauchender Menschen, schicker Schlitten, tadelloser Kleidung und vielen brutalen Kopfschüssen. Die gebrauchten Waffen verschwinden im Fluss. Lakonische Beschreibung aus dem Off: "Würde man Taucher hinunterschicken, könnte man ein kleines Dorf bewaffnen."

Warum Netflix übernahm

Korruption, Männerbündnisse und rohe Umgangsformen in feinem Zwirn: ideale Ausgangsbedingungen für Meisterregisseur Martin Scorsese. In dreieinhalb Stunden spannt er den Bogen von den amerikanischen 1950ern bis ins Heute. Seit 2008 wollte Scorsese diese Geschichte auf die Leinwand bringen. Nachdem die Kosten explodierten, sprangen die Produktionsfirmen ab. Netflix übernahm. Der Film läuft ab sofort in ausgewählten Kinos, bevor er am 27. November online geht.

Abwarten? Zahlt sich nicht aus. Dieser große Kinofilm ist auch für die große Leinwand gemacht und nur dort wird die präzise Arbeit sichtbar, der fabelhaft inszenierte Kampf zweier Paten (Al Pacino und Joe Pesci) um ihren Machterhalt. Die Gesichter der Altherrenrunde wurden für ihre Leinwandjugend digital geglättet. Und auch wenn diese Bilder nicht mit unseren Bildern von ihnen in jungen Jahren entsprechen mag, alle Darsteller glänzen in diesem Film. Insbesondere aber in jenen Szenen, in denen sie ihr schauspielerisches Können in kleinen oder großen Gesten auspacken: Wenn Al Pacino als Figur einen seiner cholerischen Wutausbrüche hat oder De Niro am Telefon um Worte ringt, dann ist das hohe Kunst.

Geniale Altherrenrunde: Al Pacino, Martin Scorsese und Robert De Niro
Geniale Altherrenrunde: Al Pacino, Martin Scorsese und Robert De Niro © Victoria Will/Invision/AP

Als Zuschauer taucht man tief ein in das dunkle Netz aus Korruption, Machtdemonstration und Machoismus. Und trotz aller subtilen und direkten Mordanweisungen, trotz der Abkehr von einstigen Vertrauten oder einem untereinander solidarischen Zick-Zack-Kurs ist es ein trauriger Film geworden.

Am Ende schweift die Kamera wieder ins Altersheim von Sheeran. Dessen Töchter haben sich von ihm abgewandt, die Frau ist gestorben, er selbst zwar nur in wenigen Anklagepunkten verurteilt worden und nach einer abgesessenen Haftstrafe wieder auf freiem Fuß. Dennoch: Lebensglück sieht anders aus. Er muss sich sogar den Sarg selbst aussuchen. Er wünscht sich ein Begräbnis - auch wenn wahrscheinlich niemand vor dem Grab um ihn weinen wird. Am Ende bietet er die Heimhilfe die Tür einen Spalt weit offen zu lassen. So hat er wenigstens noch ein bisschen Anschluss an die Welt. Was für ein Abschied!