Den Schwanz einer Schlange hat Eva Sangiorgi für ihr zweites Jahr an der Spitze der Viennale als Sujet ausgesucht, und auch die Filmauswahl der Italienerin verspricht ein vielfältiges, sich immer wieder häutendes Kinovergnügen. Eröffnet wird die 57. Festivalausgabe am 24. Oktober mit Celine Sciammas "Portrait de la jeune fille en feu", mehr als 300 weitere Filme folgen bis 6. November.

Sciammas Cannes-Starter bringt nicht nur Hauptdarstellerin Adele Haenel nach Wien, sondern auch die Liebesgeschichte zweier Frauen auf die große Leinwand des Gartenbaukinos. Im Frankreich des Jahres 1770 lässt die Regisseurin eine Künstlerin und eine Adeligen-Tochter aufeinandertreffen und schält sukzessive Gemeinsamkeit der zunächst so verschieden wirkenden Protagonistinnen heraus. Diesem in jeder Hinsicht weiblichen Blick stellt die Viennale am anderen Ende mit "Martin Eden" einen Kontrapunkt entgegen, ist der diesjährige Abschlussfilm doch eine Bearbeitung des gleichnamigen, autobiografischen Romans von Jack London durch Pietro Marcello.

Eva Sangiorgi
Eva Sangiorgi © APA/HELMUT FOHRINGER (HELMUT FOHRINGER)

Nah an seine Figuren heran zoomen auch andere Werke: So etwa Seamus Murphy in "A Dog Called Money", das zwar oberflächlich die Musikerin PJ Harvey bei einer Albumproduktion begleitet, aber eigentlich mehr künstlerischer Essay über Krisenherde und ihre Bewohner ist. Oder Sabine Derflingers Dokumentation "Die Dohnal", die der früheren Frauenministerin, SPÖ-Politikerin und "lesbisch-feministischen Superheldin" ein Denkmal setzt. US-Kultregisseur Terrence Malick hat sich wiederum mit dem Wehrdienstverweigerer und Nazigegner Franz Jägerstätter auseinandergesetzt ("A Hidden Life").

Dem Zweiten Weltkrieg begegnet man weiters in "Jojo Rabbit", wenngleich in einer etwas unkonventionellen Art und Weise: Hollywoodregisseur Taika Waititi inszeniert darin einen zehnjährigen Buben mit Adolf Hitler als imaginären Freund. Moral, Spaß und Gräuel geben sich beim satirischen Toronto-Gewinner die Hand. Preisgekrönt ist auch "Synonymes" von Nadav Lapid: Das bei der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnete Drama erzählt von einem jungen Mann, der in Paris seine israelischen Wurzeln hinter sich lassen möchte. Ebenfalls in Berlin reüssieren konnte Angela Schanelec, deren prämiertes Werk "Ich war zuhause, aber..." Teil eines der deutschen Regisseurin gewidmeten Schwerpunkts ist.

Große Regienamen sind heuer jedenfalls wieder gut vertreten, seien es die Dardenne-Brüder ("Le jeune Ahmed" verhandelt jugendliche Radikalisierung), Olivier Assayas ("Wasp Network" ist als Kubathriller angelegt) oder Woody Allen ("A Rainy Day in New York" gefällt sich als Heimspiel des US-Filmemachers). Mit reichlich Vorschusslorbeeren kommt Noah Baumbachs "Marriage Story" nach Wien, wobei der Indiemeister für seine Trennungsgeschichte ein hochkarätiges Cast um Adam Driver und Scarlett Johansson versammelt hat.

Auf subtilen Horror setzt eine heimische Größe: In Jessica Hausners "Little Joe" geht große Gefahr von einer eigentlich fragil wirkenden Pflanze aus, die aber viel Einfluss auf ihre Umgebung hat. In Cannes brachte dieses Setting Emily Beecham den Preis als beste Darstellerin ein. Ein wahrer Genreexperte ist Robert Eggers, der nach seinem Debüterfolg "The Witch" nun Robert Pattinson und Willem Dafoe in das gänzlich in schwarz-weiß gehaltene "Lighthouse" schickt. Letzter ist auch als "Tommaso" zu erleben: Abel Ferrara macht den US-Charakterdarsteller zu einem Suchenden, der trotz unzähliger Fähigkeiten zwischen den Stühlen sitzt. Peter Parlow verhandelt in "The Plagiarists" hingegen Wahrheit und Kopie, wenn er Hipster schwadronieren lässt.

Das zuletzt sehr präsente Thema Flucht greift Mati Diop in ihrem Debüt "Atlantique" (Großer Preis der Jury in Cannes) auf: Darin kämpft Ada mit den Erwartungen ihrer Familie und ihren eigenen Wünschen, während ihre große Liebe die Reise nach Europa offenbar nicht überlebt hat. Ulrich Köhler und Henner Winckler schicken hingegen ein ungleiches Vater-Tochter-Gespann in "Das freiwillige Jahr", und Rita Azevedo Gomes nimmt für "A Portuguesa" Anleihen bei Robert Musils Novelle "Die Portugiesin". Und nicht zuletzt verneigt sich die Viennale mit "Varda par Agnes" bei der im Frühjahr verstorbenen Filmlegende Agnes Varda.