Man kann es nicht anders sagen: Das Treiben der islamistischen Terroreinheiten von Boko Haram ist nichts anderes als ein Krieg gegen Frauen. Edna O'Brien, die große irische Autorin, ist mit Ende 80 nach Nigeria gereist, um sich die Geschichten anzuhören, die Entführungsopfer zu erzählen hatten. In dem Roman „Das Mädchen“ hat sie alle diese Erzählungen zu einer prototypischen Geschichte verwoben. Es ist eine Geschichte voller absurder Grausamkeiten, die O'Brien mit einer Härte und Konsequenz schildert, die an die besten Romane von J. M. Coetzee und Cormac McCarthy erinnert. Die Autorin begleicht gleichsam ihre Schuld an den Mädchen, die ihr unglaubliche Geschichten erzählt haben, mit einer präzisen, kompromisslosen Darstellung des Leids, das nichts auslässt.

© Hoffman und Campe

Damit reiht sich der Roman in die lange Reihe von Romanen über Frauen, die die 1930 in Westirland geborene Schriftstellerin erschaffen hat. Und doch ist auch „Das Mädchen“ keineswegs eine Opfergeschichte, sondern eine über den Überlebenswillen. Wie sich die junge Maryam gegen dieses Schicksal stemmt, wie sie sich mit der Hilfe von anderen rettet, ist eine ganz säkuläre Heilsgeschichte, die O'Brien in atemberaubender sprachlicher Dichte in eine als feindselig und gleichgültig geschilderte Welt platziert. Das ist literarischer Dokumentarismus von Weltrang.Edna O'Brien „Das Mädchen“. Hoffmann und Campe. 254 Seiten. 23,70 Euro.

Zen-buddhistischer Thriller

Die Worte wollen ihm nicht einfallen, Gesichter kommen ihm irgendwie bekannt vor, aber er kann sie nicht zuordnen. Alles, was gerade erst passiert ist, verschwindet unvermeidlich in einem dichten, undurchdringlichen Nebel des Vergessens. Der pensionierte Tierarzt Byongsu Kim teilt ein Schicksal mit abertausenden anderen Demenzkranken, und doch ist sein Fall sehr speziell. Kim ist ein Massenmörder, der sich schon vor geraumer Zeit zur Ruhe gesetzt hat und mit seiner Tochter ein unauffälliges Leben führt. Doch es gibt neue Mordserie in seiner Gegend und er trifft einen Mann, den er als den Täter zu erkennen vermeint. Es beginnt ein bizarrer Wettlauf gegen die Zeit, in dem der zusehends vergessliche Pensionist versucht, seine Tochter vor dem Kontrahenten zu schützen.

„Aufzeichnungen eines Serienmörders“ von Young-Ha Kim klingt nach einem Thriller, ist aber eher eine dicht gedrängte Reflexion über den Tod, über das Altern, das Zerrinnen der Zeit – und über familiäre Probleme. Die Entfremdung von der Ziehtochter ist für den alten Mann ebenso dramatisch und schmerzhaft wie das absurde Psychoduell mit dem jungen Mörder. Young-ha Kim, einer der erfolgreichsten Autoren Südkoreas, ist ein Meister darin, selbst melodramatische Übertreibungen zu Szenen von höchstens zwei Seiten zu verdichten. Manches mutet in seiner Knappheit wie ein Prosagedicht an.

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Mit sardonischem Humor erzählt der Autor eine Geschichte, die alle Klischees und gängige Moralvorstellungen desavouiert. Byongsus einstige Morde sind ein grausames Echo der Militärdiktatur und ihrer sozialen Verrohung, die Südkorea ein Vierteljahrhundert lang im Griff hatte. Sein Vergessen ist natürlch auch als eine Metapher heutiger Verdrängungsmechanismen lesbar. Der Protagonist ist ein Ex-Mörder ohne Gewissensbisse, in einer nachtschwarzen Welt, in der das qualvolle Vergessen zur Vorstufe des letztlich erlösenden Nichts wird. Zen-buddhistische Gelassenheit und eine Exzentrik, die man auch aus dem südkoreanischen Kino kennt, gehen hier eine explosive wie enorm vielschichtige literarische Verbindung ein.

Young-Ha Kim. Aufzeichnungen eines Serienmörders. Cass, 152 Seiten, 20,60 Euro.

Ein Anti-Bildungsroman

Die dritte Leseempfehlung ist einem Klassiker gewidmet. In den Jahren 1785 und 1786 erschien in Berlin der Roman „Anton Reiser“ von KarlPhilipp Moritz. Die verkappte Autobiographie des Autors ist ein Bildungsroman, also das, was man heute als Coming-of-Age-Story bezeichnet. Und es ist zugleich ein Anti-Bildungsroman, weil sich der Protagonist am Ende keineswegs mit der Gesellschaft aussöhnt. Diese Beschreibung des Scheiterns ist unerhört modern, auch weil Moritz einen der ersten psychologischen Romane der Weltliteratur geschaffen hat. Und der radikale Aufklärer beschreibt mit barmherziger Klarheit von all den Drangsalierungen einer unglücklichen Kindheit und Jugend. Aufgewachsen in einem Haushalt religiöser Eiferer und als Hutmacherlehrling verschachert, erfährt dem Helden bisweilen durchaus Güte. Am Ende steht der Wunsch, sich als Theaterschauspieler zu etablieren, die Flucht in die Kunst.

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Es ist ein Roman, der mit der Welt hart ins Gericht geht, der, verglichen mit den Romanen Goethes einen aufregend rauen Sound hat und der gewissermaßen auch den Realismus späterer Jahrzehnte vorwegnimmt. Weltliteratur, die heute außerhalb der germanistischen Seminare weitgehend vergesen ist.

Karl Philipp Moritz, „Anton Reiser“. Reclam, 568 Seiten, 9,70 Euro.