„Hunger für alle“


Vor mehr als 25 Jahren sorgte ein anarchistisches Kollektiv, das sich Luther Blissett nannte, nicht nur in Italien für erhebliches Aufsehen. Teils traten die „Guerillas des Wortes“, ansässig in Bologna, durch Aktionismus und zynische Falschmeldungen in Erscheinung, teils bliesen sie den Machthaben im Lande durch provokante, sprachmächtige Werke den Marsch. Einige Jahre später wandelte sich Luther Blissett in Wu Ming und konzentrierte sich auf die Neuschreibung historischer Werke, meist aus der Sicht des „einfachen“, anonymen Volkes. Am imposantesten gelingt dieses Bestreben zweifellos mit der „Armee der Schlafwandler“; der Roman schildert all die Ereignisse rund um die französische Revolution aus völlig neuen, nicht selten zynischen Perspektiven.

Das wuchtige Werk ist aber auch das Resultat langjähriger Recherchen und Forschungsarbeiten. In äußerst plastischer und bildstarker Sprache, die jeden Leser und jede Leserin unverzüglich mitten hinein in die Geschehnisse zieht und sie fast zu Augenzeugen macht, führt das Buch vor Augen, wie rasch all die Träume und Illusionen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit platzten. Eine maßgebliche Rolle spielt auch der Mesmerismus, die von Franz Anton Mesmer entwickelte, angebliche Heilung durch Magnetismus, der Hypnose nicht unähnlich. Bei Wu Ming wird daraus eine Massensuggestion und Manipulation, mit einer reichlich willenlose Schar von Somnambulen, offen für jede Form von Populismus. Womit der Gegenwartsbezug offenkundig wird.
„Die Armee der Schlafwandler“ ist ein enorm vielschichtiges, ausgeklügeltes Epos, stilistisch angesiedelt oft im Nahbereich von Victor Hugo, angereichert mit Sätzen wie „Hunger ist für alle da“. Für Lesehungrige, die sich gerne abseits des Mainstreams bewegen, eine absolute Pflichtlektüre. Und für Freunde alternativer Geschichtsromane natürlich auch.

Wu Ming. Die Armee der Schlafwandler. Assoziation A, 671 Seiten, 28,80 Euro.

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Schrei des Widerstandes

Der grauenhafte Fall des kurdisch-iranischen Journalisten Behrouz Boochani sorgte ab 2013 zwar weltweit für Aufsehen, Taten aber blieben aus. Fast sechs Jahre lang war Boochani auf der berüchtigten Insel Manus interniert, einem von Australien betriebenen Abschiebe- und Internierungslager, das einigen Politikern hierzulande ab dem Jahr 2015 als Vorbild für den Umgang mit unwillkommenen Flüchtlingen diente. Boochani begann bald nach seiner Verhaftung, all die entsetzlichen Zustände zu protokollieren, in Tausenden von SMS-Nachrichten, Handyvideos und E-Mails, die ihren Weg an die Öffentlichkeit fanden. Der australische Literat Richard Flanagan schreibt in seinem Vorwort zu „Kein Freund außer den Bergen“ von einem „unglaublichen Verbrechen der Australier“. Flanagan ist überzeugt, dass dieses Buch einen Platz neben den großen Kerkerbüchern der Weltliteratur einnehmen wird. Es ist ein geringer Trost angesichts all der Misshandlungen, die Boochani und allen anderen Internierten widerfuhren. Ein beklemmendes, erschütterndes Werk, aber unbedingt lesenswert, weil es hilft, den Blick auf die Welt etwas anders zu justieren.


Behrouz Boochani. Kein Freund außer den Bergen. Btb, 444 Seiten, 22,70 Euro.

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Tückische „Kostbarkeit“

Jahrelang war der Waisenknabe angeblich eingesperrt in einem Kellerloch im Kosovo. Man nannte ihn nur den „Hund“. Auf Irrwegen schlägt er sich nach seiner Flucht aus dem Loch durch bis nach Berlin, wo er einen miserabel bezahlten Job bekommt – aus Hilfskraft bei einem Dönerstand. Rasch aber zeigt sich, dass dieser Underdog im wahrsten Sinn des Wortes über geradezu geniale Kochkünste einen ebenso genialen Geschmacksinn verfügt. Dies spricht sich herum, bald bekommt der Zuwanderer eine Stelle in einem Berliner Gourmet-Tempel. Eine schier unaufhaltsame Karriere eines neuen Koch- und Küchenstars nimmt ihren Lauf. Achim Bomhak, der den Künstlernamen Akiz trägt und bisher vor allem als Drehbuch-Autor und Filmemacher einige Erfolge feiert, liefert in seinem Debütroman „Der Hund“ ein zynisches Sittenbild der angeblich feinen und noblen Gesellschaft und er zeigt ebenso zynisch, welche Zustände in den Küchen der Nobel-Restaurants herrschen. Geschrieben in einer Sprache, in der so mancher Deckel vom Topf fliegt. Trotzdem handelt es sich um einen literarischen Leckerbissen, mit bitterem Beigeschmack halt.
Akiz. Der Hund. Hanserblau, 192 Seiten, 18,50 Euro.

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Spirale der Erinnerung 


Beim Schreiben ihres Tatsachenromanes „Die roten Stellen“ leistete ihr die amerikanisch-sprachige Ausgabe von Peter Handkes „Wunschloses Unglück“ stumme, aber doch hilfreiche Gesellschaft. Da wie dort ist es der Versuch, unbegreifliche Dinge zumindest einigermaßen zu verstehen, es ist das Bestreben, der Fassungslosigkeit Sprache zu verleihen. 2004 widmete die US-Autorin Maggie Nelson ihrer Tante Jane einen Gedichtband. Sie kannte die Schwester ihrer Mutter nicht, aber sie wollte aus Fragmenten der Erinnerung ihrer Familienangehörigen ein persönliches Bild jener Frau schaffen, die 1969 ermordet wurde. Und ihr auch ein Denkmal setzen.

Der Fall galt als ungelöst. Als sich Maggie Nelson mit ihrem Lyrikband auf Lesereise befand, erhielten sie und ihre Familie die Nachricht, dass der Mörder nach 36 Jahren durch eine DNA-Analyse doch gefasst werden konnte. Bald danach steht der Täter vor Gericht, Maggie Nelson und ihre Familie wohnen dem wochenlangen Verfahren bei.


Das Buch trägt den Untertitel „Autobiografie eines Prozesses“ und könnte sich auch als True-Crime-Geschichte bezeichnen lassen. Aber die Autorin hat mit der Anatomie eines teils fast vergessenen, teils verdrängten Verbrechens rein gar nichts im Sinn. Sie legt, mit großer, ehrlicher Emotion offen, wie die Gegenwart ohne jegliche Vorwarnung in die Vergangenheit zerfällt, wie sich die Spirale der Erinnerung erneut zu drehen beginnt und wie diffizil die Forderung nach „Gerechtigkeit“ nach so langen Jahren sein kann. Mit einer Mischung aus später Trauer, der trügerischen Hoffnung, nur einem Albtraum beizuwohnen, erweist sich diese Chronik des wiedergekehrten Leidens wie eine zeitgemäße Variante von Schuld und Sühne, von der nicht erwünschten Wiederkehr des Unglücks, das nur ein klares Urteil zulässt: unbedingt lesenswert.
Maggie Nelson. Die roten Stellen. Hanser Berlin, 224 Seiten, 23,70 Euro.

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Doppelte Entdeckungsreise


Mit seinem 1929 erschienenen, gigantischen Epos „Schau heimwärts, Engel“, schuf der US-Autor Thomas Wolfe einen Jahrhundertroman, der Autoren wie William Faulkner und Philip Roth maßgeblich prägte und auch Thomas Bernhard zutiefst beeindruckte. Weitaus weniger bekannt ist, dass Wolfe, der mit 38 Jahren starb, Deutschland zu seinem Sehnsuchtsland erkoren hatte. Zwischen 1926 und 1936 reiste er insgesamt sechs Mal in das anfangs so idealisierte Land der Dichter und Denker, er zeigte sich tief beeindruckt von der Schönheit der Städte, von der Gastfreundschaft der Menschen. Spätestens bei seinem letzten Aufenthalt musste er sich eingestehen, dass es sich zunehmend um Reisen in die Finsternis handelte. Ein ebenso imposantes wie düster-visionäres literarisches Zeitbild, ergänzt durch zahlreiche bisher unveröffentlichte Notizen, Tagebucheintragungen, versehen mit acht Originalseiten aus den Notizbüchern des Autors und 20 historischen Fotos. Eines davon zeigt James Joyce, der ebenfalls zu den Wolfe-Bewunderern zählte.


Wolfes „Deutschlandreise in sechs Etappen“ ist, allein durch die Tagebucheintragungen, spontanen Notizen und Briefe eine enorme Fundgrube, die auch belegt, über welches Sensorium dieser Dichter verfügte. Dies kommt auch in den zahlreichen Novellen zum Ausdruck. Einen Besuch beim Oktoberfest im Jahr schildert er noch mit einiger Ironie, aber mehr und mehr muss er erkennen, dass sein „Good old Germany“ dem arischen Wahn weicht. „Die Pestilenz hatte sich ausgebreitet“, schrieb er 1937 in einem Epilog. Seinem „Herzensland“ hatte er zuvor endgültig und entsetzt den Rücken gekehrt, mit der schauderhaften Erinnerung an Hitlers Auftritt bei den Olympischen Spielen 1936 im geistigen Gepäck. Als „Dark Messiah“ bezeichnete Wolfe den Führer, auch über Deportationen schrieb er bereits damals, als viele andere noch wegschauten.
Diese Reisebilder sind geprägt durch die Scharfsicht einen Außenstehenden, durch düstere Vorahnungen, durch das frühe Erkennen der wahnwitzigen sozialen Umbrüche. Dies erhöht ihren Stellenwert noch erheblich.


Verbunden mit dieser Lese-Empfehlung ist natürlich die Hoffnung, dass möglichst viele Leserinnen und Leser Wolfe‘s Opus magnum „Schau heimwärts, Engel“ möglichst bald zur Hand nehmen. 2009 erschien im Manesse-Verlag eine exzellente Neuübersetzung dieses wunderbaren Werks, das mit etlichen amerikanischen Klischees aufräumt. Mit einem grandiosen jugendlichen Protagonisten, der aus desolaten familiären Verhältnissen stammt, aber er versteht es, die ramponierte, muffige Welt durch seine Vitalität und Lebensbejahung immer wieder neu zu verzaubern.
Thomas Wolfe. Eine Deutschlandreise. Manesse, 416 Seiten, 25,70 Euro.
Thomas Wolfe. Schau heimwärts, Engel. Manesse, 784 Seiten, 30,80 Euro.

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