Milo Rau (43), einer der radikalsten europäischen Theatermacher und seit Projekten wie "Die Moskauer Prozesse" oder "Kongo Tribunal" Garant dafür, politische Entwicklungen mit theatralen Mitteln schmerzhaft zuzuspitzen, war mit Ursina Lardi für "Everywoman" in Brasilien auf Recherche unterwegs, als der Coronavirus einen Abbruch der Reise erzwang. "Wir hatten eine Art Fitzcarraldo-Paraphrase im Sinn", erzählt Rau im Interview mit der APA. "Es wäre eine kritische Bestandsaufnahme des kapitalistischen Großkünstlers gewesen, der denkt, er wird durch seine Werke unsterblich."

Zwei Monate später entschied man sich angesichts der aktuellen Entwicklungen für einen radikalen Neuanfang: "Wir haben gesagt: Setzen wir uns mit der Frage des individuellen Todes auseinander. Warum werden die Sterbenden weggesperrt? Warum will man den Tod nicht mehr sehen? Warum hat man solche Angst, einen Menschen zu verlieren? Der große Unterschied zum 'Jedermann' ist, dass es dort den Glauben gibt - und sei es nur als kulturelle Übereinkunft. Doch den haben wir verloren. Der Jedermann steht ja nur ein paar Minütchen mit leeren Händen da, und schon kommen die Werke, die Mutter, der Glaube... Interessant ist ja, dass Hofmannsthal selber nicht an diese Allegorien geglaubt hat. Er hat mit 'Jedermann' ein Stück über die Todvermeidungsstrategien einer pseudo-katholischen, pseudo-wertorientierten Welt geschrieben. Heute stehen wir mit einer ganz anderen Verzweiflung, einer anderen Verlassenheit da als dieser Jedermann."

Man begab sich auf die Suche nach Menschen, die unmittelbar mit dem Tod konfrontiert sind. In einem Hospiz fand man eine an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte Patientin, die bereit war, auf Video über ihre Situation und ihre Ängste zu sprechen. Ursina Lardi tritt auf der Bühne mit diesen Aufnahmen in Interaktion. Und möglicherweise wird sich die Frau auch live die Premiere ansehen können. "Ihre ursprüngliche Lebenserwartung mit dieser Diagnose betrug drei Monate. Da ist sie schon um zwei, drei Monate drüber. Ich hoffe sehr, dass sie kommen kann." Die Produktion wird nach Salzburg auch an der Schaubühne Berlin, wo Lardi Ensemblemitglied ist, und am NT Gent, wo Rau künstlerischer Leiter ist, gezeigt werden.

Ursinal Lardi, Darstellerin in "Everywoman"
Ursinal Lardi, Darstellerin in "Everywoman" © Crew United/Beatrice Minda

Bei seinem Antritt in Gent 2018 erregte Milo Rau mit einem Manifest Aufsehen, das eine radikale Abkehr von herkömmlichen Produktionsbedingungen forderte. Durch den Theater-Shutdown fühlt er sich nun bestätigt: "Wir haben uns mit dem Manifest quasi prophetisch erwiesen, weil wir alle Strukturen, die sich nun als unflexibel herausgestellt haben, bereits kritisiert und aufgelöst haben. Wir sind ja momentan Opfer des Theaterbegriffs des 19. Jahrhunderts, der dazu führt, dass wir alle gleichzeitig in diese Säle reinmüssen, und da wird ein Stück mit mindestens acht Leuten aufgeführt, die sich alle küssen oder ermorden", lacht Rau.

Corona habe Alternativen dazu beschleunigt: "Wir haben die 'School of Resistence' gegründet und als Teil dessen die (von der indigenen Schauspielerin Kay Sara gehaltene) Rede zur Festwochen-Eröffnung nicht im Burgtheater, sondern online gemacht. Dabei hatten wir nicht 200 sondern 10.000 Zuschauer, und zwar nicht nur in Wien, sondern in elf Ländern. Das ist ein wahnsinniger Impact. Die Rede wurde, glaube ich, bisher eine halbe Million mal geklickt und Zehntausende Mal verbreitet - das wäre nie passiert, wären wir in einen Raum gegangen. Und präsent bei der Rede waren jene, die es wirklich angeht." Nämlich jene Landlosen, die gegen die Brandrodungen im Amazonasgebiet kämpfen - wovon u.a. Raus Projekt "Antigone im Amazonas" handelt, dessen Abschluss ebenfalls verschoben werden musste. "Corona fördert eine andere Präsenz und eine viel inklusivere Praxis. Man muss als Künstler und Kurator immer versuchen, für solche Dinge dankbar zu sein."

Auf der anderen Seite habe die Coronakrise freie Kunstschaffende schwer getroffen, gibt Rau zu und verweist darauf, dass seine Produktionsgesellschaft "International Institute of Political Murder" den Konkurs gerade noch abwenden konnte. "Wir konnten ein halbes Jahr nicht touren. Ich habe versucht, meine Leute unterzubringen, wo ich konnte. Und wir führen beim Festival in Venedig meinen Jesus-Film 'Das neue Evangelium' auf (in dem der Aktivist Yvan Sagnet als "erster schwarzer Jesus der europäischen Filmgeschichte" zu sehen sein wird, Anm.). Wir haben auch die Stücke 'Familie' und 'Orest in Mossul' verfilmt, das eine ist eher ein Kinofilm, das andere ein Dokumentarfilm. Natürlich ist das Endziel, dass man wieder in den großen Sälen spielt - und von mir aus auch die großen Klassiker."

In Salzburg hat Milo Rau mit seinem Team Quartier in einer Seniorenresidenz genommen. "Das ist sehr schön und sehr ruhig, da lese ich abends immer in Vladimir Jankélévitchs 'Der Tod'", betont der Regisseur schmunzelnd passendes Ambiente und die Lektüre entsprechender Sekundärliteratur bei den "Everywoman"-Proben. Bei den Salzburger Festspielen nehme man die Sicherheitsmaßnahmen viel strenger als anderswo im Kulturbetrieb, lobt er. Gleichzeitig gibt er zu, sich als "aus dem Kleinbürgertum stammender" politischer Künstler beim glanzvollen Hochkulturfestival nicht gänzlich heimisch zu fühlen. "Ich bin da immer ein bisschen hin- und hergerissen: Einerseits fühle mich in dem ganzen Luxus fehl am Platz, andererseits zählt für mich der persönliche Arbeitskontext, und der ist hier hervorragend. Die Oberfläche ist mir fremd, aber intern ist alles total entspannt und angenehm."

Für sein nächstes Buchprojekt hat Milo Rau 100 einflussreichen Künstlern und Intellektuellen die Frage gestellt: "Why Theatre?" Diese Frage stelle sich noch dringlicher, wenn man sich vor Augen führe, was der Welt in den nächsten Monaten und Jahren bevorstehe, meint er: "Wir sollten im Bewusstsein leben, dass Covid-19 ein Globalproblem ist, Klimawandel ein Globalproblem ist, Armut ein Globalproblem ist. Ein Beispiel: In der pakistanischen Textilindustrie wurden in der Coronakrise sämtliche Aufträge storniert und zwei Millionen Menschen dadurch von einem Tag auf den anderen mit dem Hundertod konfrontiert. Die große Rechnung wird von denen bezahlt. Die eigentliche Krise bei einer Krankheit wie Covid-19 ist das, was nachher passieren wird."