Es ist der zweite Anlauf der Komponistin Olga Neuwirth, ein Werk für die Wiener Staatsoper zu schaffen. Beim ersten Mal sollte Elfriede Jelinek als Librettistin an Bord sein, doch kam es dazu nicht. 2013 erfolgte dann der neue Auftrag, und diesmal war es Olga Neuwirth sofort klar, dass Virginia Woolfs berühmter Roman „Orlando“ die Vorlage wird. „Ich habe das Buch mit fünfzehn Jahren gelesen und es blieb in meinem Gehirn hängen“, so Neuwirth. „Dieses Wesen Orlando hinterfragt die Normen der Gesellschaft in allen historischen Perioden. Es entzieht sich allen Stereotypen und lässt sich in keine Normen pressen“.

Das Libretto schrieb Neuwirth zusammen mit Catherine Filloux, und die beiden halten sich weitgehend an den Original-„Orlando“, jener Geschichte eines Mannes, der eine Zeitreise durch einige Jahrhunderte macht und währenddessen zur Frau wird. Neuwirth: „Es endet bei Woolf 1928, und die meisten Episoden sind bei uns enthalten, auch um die Sprache Woolfs in der Musik widerzuspiegeln. Ich wollte aber das viktorianische Zeitalter einschieben als Hommage an Virginia Woolf, da dieses ihre Erfahrungen geprägt hat.

Die Uraufführung wird von einem Freund Neuwirths, dem Komponisten und Dirigenten Matthias Pintscher, musikalisch geleitet. „Wir kennen uns seit 25 Jahren und haben unglaublichen Respekt voreinander. Es hat sich fast logisch ergeben, dass wir dieses Werk Olgas gemeinsam auf die Welt bringen“, sagt Pintscher.

Wie hört sich die Musik an?

Wie wird sich diese Musik Neuwirths anhören? „Orlando existiert ja zwischen Vergangenheit und Gegenwart“, so die Komponistin. „Ich spiele auch mit Anspielungen an die Musikgeschichte, doch es geht mir um eine Verzerrung, eine Verschiebung, ein In-Frage-Stellen als Stilmittel auf allen Ebenen der Partitur. Ich spiele mit Ironie und Freude mit Topoi der Musikgeschichte. Man wird so etwas Ähnliches wie Renaissancemusik hören, wenn Elisabeth I. auftritt. Auch diese Figur ist für mich so etwas wie ein Orlando, die als erste große Regentin ihren Mann stehen musste“.

Neuwirths Erzählung geht weiter als 1928, bis ins Heute. „Es gibt auch viele Anspielungen an die Geschichte der Musik, manches wird man erkennen, anderes nicht“. Für Neuwirths Verhältnisse wird es ein langer Opernabend, zweieinhalb Stunden. Wird es für die Besucher schwierig zu erfassen sein?

Szene aus "Orlando"
Szene aus "Orlando" © Staatsoper/Pöhn

Man muss nicht alles verstehen

Neuwirth: „Ich mache ein Angebot, man muss nicht alles verstehen. Es ist eine dicht gewobene Musik, es ist ein großer Aufwand, aber es geht ja auch um den Menschen. Der Mensch ist auch nicht zu verstehen, er ist ein komplexes Wesen“. Dirigent Pintscher unterstützt: „Es ist eine wahnsinnig ausdrucksvolle, komplexe Musik. Aber jede Musik drückt die Komplexität ihrer Zeit gewollt oder ungewollt aus“.

Die Arbeit mit dem Staatsopernorchester verläuft sehr professionell, und es reagiere mit großer Dynamik darauf, erzählt er. „Wir bewegen uns, es ist kreativ und energetisch. Und die Komponistin mischt sich nur ein, wenn es nichts mehr mit ihr zu tun hat“, so Pintscher. Neuwirth ergänzt: „Natürlich ist es eine Herausforderung für das Haus mit drei Chören, einem Kinderchor, dem Orchester, E-Gitarristen, Videos und Samples. Es sind ungewöhnliche Töne für das klassische Orchester. Denn ich habe von Anbeginn an nach ‚androgynen Klängen‘ gesucht, und jedes Klangobjekt stelle ich sofort wieder in Frage. A horn is not a horn, is not a horn, alles ist ständig elastisch und biegbar und im ständigen Fluss“.

Ist das Ganze überhaupt eine Oper? „Es ist eine Opera Performance“, sagt Neuwirth. „Es geht eben darum, nicht zu schubladisieren, daher wollte ich auch gleichzeitig mit verschiedenen Genres spielen. Und ich habe daher Menschen aus verschiedenen Genres eingeladen. Wir schaffen einen Raum aus Musik, unterschiedlichem Gesang und verzerrten Klängen, um zu zeigen, dass man trotz Andersartigkeit gemeinsam existieren kann, wenn alle über ihren Schatten springen“.

Was ist Neuwirths Botschaft? „Orlando stellte Normen in Frage und verändert sie, um neue Wege gehen zu können und um ein Freigeist zu bleiben. Es geht um die Meinungsfreiheit des Menschen, um Originalität und um Fluid Identity. Der Mensch darf suchen, wer er ist“.

Hintergrund

Von der „Habergoaß“ bis zum „Orlando“

Sie war erst 17, als sie an einer Oper mitarbeitete: Olga Neuwirth, Schülerin aus Schwanberg und Tochter des Jazzpianisten Harry Neuwirth, assistierte 1985 beim Jugendmusikfest Deutschlandsberg Hans Werner Henze bei „Robert der Teufel“ und komponierte für diese sozialutopische Oper, in der es um den Protest gegen Profitgier, Gewalt und Kriegstreiberei ging, zwei Lieder sowie Tänze von Wassermann, Scharbock und Haberngoaß. Das Libretto, eine weststeirische Sage ironisierend, schrieb Elfriede Jelinek. Die damals entstandene enge Freundschaft Neuwirths zur Autorin hält bis heute, und Jelinek lieferte ihr Texte zu Werken wie „Bählamms Fest“, „Sportstück“, „Lost Highway“.

Als Jungkomponistin 1984 beim ersten Jugendmusikfest
Als Jungkomponistin 1984 beim ersten Jugendmusikfest © Huber


Olga Neuwirth nannte ihre Werke wegen ihres pessimistischen Grundtons oft „Katastrophenmusik“. Dieser Pessimismus war und ist aber auch immer ein Schild für die Musikerin, zum Beispiel, um sich im ellenbogenharten „Boys Club“ der Branche durchzusetzen oder Rückschläge abzuwehren: Im Oktober 2004 hatte die Staatsoper das mit den Salzburger Festspielen und Paris geplante Opernprojekt „Der Fall Hans W.“ von Neuwirth gestoppt, weil Ioan Holender und Gerard Mortier das Libretto zu schlecht erschien. Es stammte von Jelinek, die ein paar Tage später zur Literaturnobelpreisträgerin gekürt wurde. „Wir wurden damals entsorgt“, erinnerte sich Neuwirth an den abgewürgten Kompositionsauftrag, der zunächst als „Don Giovanni“-Paraphrase auf den NS-Psychiater Heinrich Gross gedacht war, dann auf den wegen Pädophilie und Anstiftung zum Mord verurteilten Kinderarzt Franz Wurst.

Olga Neuwirth, 1999 mit Elfriede Jelinek
Olga Neuwirth, 1999 mit Elfriede Jelinek © Martin Vukovits


Was lange gärt, wird nun endlich gut. In neun Tagen wird „Orlando“ mit der amerikanischen Mezzosopranistin Kate Lindsey in der Hauptrolle, dem New Yorker Countertenor Eric Jurenas (30) als Engel, Anna Clementi als Erzählerin und 21 weiteren Solisten an der Staatsoper uraufgeführt. Unschwer zu prophezeien, dass es die musikalische Unruh Olga Neuwirth auch in diesem zweieinhalbstündigen Werk irritierend ticken lässt im Klang der Zeit.
Michael Tschida
www.olganeuwirth.com

Die amerikanische Mezzosopranistin Kate Lindsey singt die Hauptrolle
Die amerikanische Mezzosopranistin Kate Lindsey singt die Hauptrolle © Staatsoper/Pöhn

CD-Tipps von Martin Gasser

Eine Kooperation mit Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek: 1997 liefert Neuwirth Sounds für zwei Monologe von Jelinek, die später in „Ein Sportstück“ Eingang fanden. Stellvertretend für einige ähnliche Wort-Musik-Kollaborationen der beiden österreichischen Künstlerinnen.
Todesraten. EMG Classical.

Die Oper „Lost Highway“ nach dem Film-Albtraum von David Lynch war einer der Höhepunkte des Kulturhauptstadtjahrs Graz 2003. Neuwirths vielfach geschichteter Stilmix ist schillernd-expressiv, die Uraufführung ist hier dokumentiert.
Lost Highway. Musiktheater. 2 CDs. Kairos.

Der Song „Send in the Clowns“ gehört zum Material, aus dem Neuwirth das autobiografisch gefärbte Trompetenkonzert
„... miramondo multiplo ...“ schuf. Hier auf einer Sammel-CD, von Håkan Hardenberger wunderbar interpretiert.
Stories. Håkan Hardenberger, Malmö Symphony. BIS.

Für das österreichische Filmjuwel „Ich seh Ich seh“ aus dem Jahr 2014 schuf Olga Neuwirth einen starken Soundtrack, der die unheimliche Stimmung des Horrorstreifens noch intensiviert. Musik aus der Gefrierzone, die auch ohne Bilder erschauern lässt.
Goodnight Mommy (Ich seh Ich seh). Soundtrack. Kairos.