Die Welt ist ein Stoff, den wir täglich auf den großen Webstühlen von Information, Diskussionen, Filmen, Büchern, Klatsch und kleinen Anekdoten weben. Heutzutage ist die Reichweite dieser Webstühle enorm – dank des Internets kann fast jeder in diesem Prozess Verantwortung übernehmen oder nicht, liebevoll oder hasserfüllt, zum Guten und zum Schlechten. Wenn sich diese Geschichte ändert, ändert sich auch die Welt.“ Dieser Satz aus der Nobelvorlesung von Olga Tokarczuk (57) ist prägend für ihr gesamtes Werk, für ihr Denken und ihr engagiertes Handeln, das ihr in ihrer polnischen Heimat sogar zahlreiche Drohbriefe einbrachte.
Dass die Autorin von Weltgeltung durch all die Kontroversen rund um die Preisvergabe fast zur Randfigur wurde, kommt einer groben Missachtung einer grandiosen geistigen Nomadin und Grenzüberschreiterin gleich. Dies beweist sie vor allem in ihrem aus einer Vielzahl von Einzelepisoden und kurzen, intensiven Momentaufnahmen bestehenden Roman „Unrast“, der zu Schauplätzen rund um die Welt führt.

Mordrohungen


Aber vor allem mit ihrem bisherigen Opus magnum „Die Jakobsbücher“ hätte die Dichterin, die 1962 in einem Städtchen im Westen Polens geboren wurde und seit etlichen Jahren unmittelbar an der tschechischen Grenze lebt, sehr viel zur aktuellen Debatte beitragen können, ob denn eine Trennlinie zwischen Literatur und Politik gezogen werden solle oder müsse. Ihre Antwort: ein klares Nein.
Denn dieses wortmächtige Werk rund um den Religionsstifter Jakob Frank mit seinen Messias-Ansprüchen, angesiedelt im 18. Jahrhundert, ist auch eine schonungslose Abrechnung mit dem latenten, oft genug verheerenden polnischen Antisemitismus, über den so gerne der Mantel des Schweigens gebreitet wurde und noch immer wird. Der 1200-Seiten- Roman weist zudem klare Gegenwartsbezüge auf, vor allem durch das vehemente Eintreten von Tokarczuk für ein gemeinsames Europa, das sich all seine multikulturellen Eigenheiten bewahrt und diese notfalls auch mit allen Mitteln schützt.
In ihrer Heimat erschien das Buch bereits im Jahr 2014. Damals vollzog sich in Polen ein dramatischer Rechtsruck, die nationalistische PiS-Partei kam an die Macht und erklärte Tokarczuk zur „Staatsfeindin“. Mehrere Morddrohungen folgten, bei ihren Lesungen waren stets Begleitschützer mit dabei.

Europa-Manifest


Dass dieses faszinierende, unbedingt lesenswerte Werk, das wie ein Monument in der Literaturlandschaft steht, erst vor wenigen Wochen in deutscher Übersetzung erschienen ist, erwies sich fast als Glücksfall. Denn an Brisanz hat dieses Manifest für ein vielschichtiges Europa nichts eingebüßt.
Mit einem Teil ihres Preisgeldes gründete Tokarczuk in Breslau eine Stiftung zur Förderung von Kunst und Kultur. Über ihre eigene Rolle als Autorin schrieb sie in „Unrast“ dies: „Erzählungen haben eine eigene Trägheit. Sie brauchen Leute wie mich, die unsicher sind, unentschieden, leicht an der Nase herumzuführen. Naiv“.
Das ist einer der wenigen Fälle, in denen diese herausragende Dichterin und Kämpferin nicht bei der Wahrheit blieb.