Ohne Proteste und Störungen sind in Stockholm die Nobelvorlesungen der Literatur-Laureaten 2018 und 2019 gehalten worden. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Während Olga Tokarczuk sich eindringlich mit dem heutigen Erzählens befasste, Fake News und Klimawandel behandelte, erinnerte sich Peter Handke an "für mein Schreiberleben entscheidende Episoden" aus seiner Kindheit. Nicht ohne dem Text eine lange Predigt über die Möglichkeit des Friedens einzuflechten, die er seinem Dramatischen Gedicht "Über die Dörfer" entnommen hatte. Handke entledigte sich gewissermaßen der Debatte, indem er die Themen ins Hochliterarische transferierte. Der Dichter scheint ein wenig ermüdet vom Wortgemenge und vom nicht enden wollenden Deutungsstreit, das seine kontroversiellen Aussagen entfacht haben,

Peter Handke, der gestern nicht nur seine Pressekonferenz gegeben, sondern auch dem Nobel-Museum zwei Seiten mit Pilzabdrücken aus einem seiner Notizbücher sowie eine Muschel gespendet hatte, musste an diesem regnerischen Samstag-Nachmittag in der schwedischen Hauptstadt jedoch etwas auf seinen Auftritt warten. Tokarczuk sprach rund eine Stunde und damit deutlich länger als vorgesehen.Handkes Rede dauerte dafür mit 32 Minuten fast nur halb so lang.

Gedicht als "Klammer"

Sein 1982 uraufgeführtes "Über die Dörfer" diente dem österreichischen Nobelpreisträger als Klammer für seine Vorlesung. Der große finale Friedensapell aus dem Werk machte gut ein Viertel seines Textes aus: Eine Predigt von der Menschlichkeit, vom Glück des persönlichen Erlebens, vom Segen der Liebe und des Miteinanders. So hat Handke, obwohl er die Debatten um seine Äußerungen zum Krieg in Ex-Jugoslawien mit keinem Wort erwähnte, vielleicht eine Form gefunden, auch darüber zu sprechen: "Habt ihr euren Krieg nicht hinter euch? So verstärkt die friedliche Gegenwart und zeigt die Ruhe der Überlebenden (...) Der ewige Friede ist möglich."

Das zweite zentrale Motiv der Handke-Vorlesung waren die Quellen seines künstlerischen Schaffens: die "Begebenheiten", die ihm seine Mutter erzählte und deren tragischen Dimensionen und wie diese seine Texte eingesickert sind, nahmen dabei die Hauptrolle in.

Cash, Cohen und Marley

In der Folge erwähnte Handke Filme von John Ford und Yasujiro Ozu, Lieder von Johnny Cash, Leonard Cohen und Bob Marley, die ihm ebenso "Schwingungen und Schwungkräfte" gegeben hätten wie die als Kind gehörten "slowenisch-slawischen religiösen Litaneien unter den romanischen Bögen der Kirche nah dem Geburtsort Stara Vas".

In der Folge las Handke einige dieser Anrufungen auf Slowenisch vor, übersetzte entgegen seinem Vorhaben dann doch einige davon ins Deutsch und beruhigte die Zuhörer: "Ist nicht lang!" Er beendete seine Rede mit dem Bedauern, nicht eines der Liebesgedichte eines ihm in Oslo anlässlich der von Protesten begleiteten Übernahme des Ibsen-Preises beigestellten Leibwächters vorlesen zu können, und schloss statt mit dem Bodyguard mit dem Gedicht "eines Soulguards, eines Seelenwächters (Nachsicht für das Wortspiel)". Es entpuppte sich als das Gedicht "Romanska bagar" ("Romanische Bögen") von Tomas Tranströmer (der Literaturnobelpreisträger 2011). Der in Frankreich lebende Österreicher Handke las es auf Schwedisch.

Veränderungen des Erzählens

Die Polin Olga Tokarczuk hatte sich zuvor eine Stunde lang mit den Veränderungen der Bedingungen des Erzählens im Zeitalter von Wikipedia, Online-Serien und Bildern, die sich ohne erklärende Worte sekundenschnell über die Welt verbreiteten, gesprochen. "Die (literarische) Fiktion hat das Vertrauen der Leser verloren, da die Lüge zu einer gefährlichen Massenvernichtungswaffe geworden ist, auch wenn sie immer noch ein primitives Werkzeug ist." Die literarische Fiktion sei aber immer eine Art von Wahrheit, Literatur stelle Fragen, die nicht einfach mithilfe von Wikipedia beantwortet werden könnten. Sensibilität sei für sie als Erzählerin von großer Bedeutung. "Sensibilität personalisiert alles, worauf es sich bezieht, und ermöglicht es, ihm eine Stimme zu geben, ihm den Raum und die Zeit zu geben, um zu existieren und ausgedrückt zu werden. Es ist der Sensibilität zu verdanken, dass die Teekanne zu sprechen beginnt."

Schuldgefühle und Scham

Sie habe keine Ahnung, unter welchen Bedingungen die Nachgeborenen leben werden, die später einmal das lesen, was heute geschrieben werde. "Ich denke oft mit Schuldgefühlen und Scham an sie." In die jetzige Krise sei die Welt geraten, weil man sie durch "Gier, Missachtung der Natur, Selbstsucht, mangelnde Vorstellungskraft, endlose Rivalität und Verantwortungslosigkeit (...) zu einem Objekt gemacht" habe, "das in Stücke geschnitten, verbraucht und zerstört werden kann. Deshalb glaube ich, dass ich Geschichten erzählen muss, als ob die Welt eine lebendige, einzelne Einheit wäre, die ständig vor unseren Augen entsteht, und als ob wir ein kleiner und gleichzeitig mächtiger Teil davon wären."

Die Nobelpreise werden am kommenden Dienstag im Konzerthaus von Stockholm überreicht. An diesem Tag werden auch jene mit Handkes Haltung zu Serbien und Jugoslawien zusammenhängende Proteste erwartet, die bisher ausgeblieben sind.

Peter Handke war um 17.30 Uhr am Wort, seine Redekonnten Sie hier mitverfolgen:

Vor Peter Handke (17.30 Uhr) war ab 16.45 Uhr Olga Tokarczuk, Nobelpreisträgerin des Jahres 2018, am Wort.