Er war ein notorischer Vielschreiber, der für sich selbst den 25-Stunden-Tag am Schreibtisch einführte. Und er stellte bis zuletzt an sich selbst höchste Qualitätsansprüche. Aber geradezu eine Majestätsbeleidigung wäre es, Andrea Camilleri bloß an seinen Krimis zu messen, wiewohl ihm sein Commissario Moltabano zu Weltruhm verhalf. Camilleri war ein immens politischer und systemkritischer Autor, der große Sizilianer  hatte auch keinerlei Scheu, sich mit der Mafia anzulegen. Die zeitkritische Literatur war sein Lebensinhalt, bis zu seinem Tod im Alter von 93 Jahren im Sommer des Vorjahres. Halb erblindet schrieb er bis zuletzt, das Resultat ist der immens gefinkelte Krimi „Kilometer 123“. Es ist eine wahrhaftig mörderische Liebesgeschichte, verfasst in fast experimentellen Stil. Das Werk besteht fast ausschließlich aus Dialogen, eingestreut sind einige SMS und Mails und einige Zeitungsnachrichten.

Seelische Abgründe


Ein Kunstgriff, der diesem knapp 130 Seiten umfassenden Krimi nicht nur zu einem enormen Tempo verhilft, sondern auch Camilleris Meisterschaft der präzisen Figurenzeichung in Worten unter Beweis stellt. Tief in psychische und seelische Abgründe kann man blicken, allein durch die feinst geschliffenen und nicht selten entlarvenden Dialoge.
Der Titel dieses kriminellen Beziehungsgeflechts aus Hass, Eifersucht, Leidenschaft und Lüge bezieht sich auf einen vermeintlich Unfall, der sich bei Kilometer 123 der berühmten Via Aurelia ereignet, die nach Rom führt. Recht rasch stellt sich heraus, dass es sich um einen Mordversuch handelte. Der Lenker des Autos  wird  bsichtlich von der Straße gedrängt, landete mit seinem Auto in einer Böschung – aber er überlebt. Es ist die erste unter vielen Wendungen in einer äußerst spannenden Story, in die mehrere Pärchen verwickelt sind. An unterschiedlichen, möglichen Motiven besteht kein Mangel. Mehr preiszugeben, wäre Hochverrat. Es sind jedenfalls gefährliche Liebschaften zum Quadrat.

Montalbano kehrt zurück


Mittlerweile gibt es a
uch, wenig verwunderlich, eine exzellente Hörspielversion mit mehreren Sprecherinnen und Sprachen, ein guter Regisseur könnte diese bösartige Geschichte gewiss auch für die Theaterbühne adaptieren.
Wie viele Bücher sich im Nachlass von Andrea Camilleri befinden, ist nicht bekannt, aber es werden ziemlich sicher einige Werke sein. Und ein Geheimnis gab der Autor, der mehr als 100 Werke verfasste, schon einige Zeit vor seinem Tod preis. Es gibt mindestens noch einen Montalbano-Krimi, der auf ausdrücklichen Wunsch des Schriftstellers erst nach seinem Ableben veröffentlicht werden darf.

Lesetipp: Andrea Camilleri. Kilometer 123. Kindler, 142 Seiten, 22,70 Euro.