Aber nein, der Roman ist nicht tot, wie oftmals gemunkelt wird; und es gibt noch Bücher, die mehr zu bieten haben als suboriginelle autofiktionale Familienaufstellungen. Und wenn sich der französische Autor Mathias Enard ans Werk macht, muss man sich auf einiges gefasst machen, auf wunderbar wollüstige Sprach- und Ideenorgien nämlich; auf ein großes Fressen fürwahr, allerdings ohne die üblichen unangenehmen Blähungen.

Mindestens zwei Großtaten haben wir Enard bereits zu verdanken. „Zone“ (2010) ist der monumentale Monolog – 500 Seiten, ein Satz – eines Veteranen aus dem Jugoslawienkrieg. In „Kompass“ (2016) lässt der Autor einen Wiener Musikwissenschaftler eine vielstimmige Reise ans Ende der Nacht antreten – inklusive Morgengrauen.

Eine zunächst harmlos anmutende Reise steht auch am Anfang von Enards neuem Roman „Das Jahresbankett der Totengräber“: Der mittelmäßig begabte Pariser Anthropologe David zieht in die französische Provinz, um dort an seiner Dissertation über das Leben auf dem Land im 21. Jahrhundert zu schreiben. Er quartiert sich in einem Haus ein, das er „das Wilde Denken“ nennt. Und im Laufe dieses Buches, das Enard wieder zu einem wagemutigen Wurf geriet, wird der Autor diesen Hausnamen zum Motto des weiteren Geschehens machen und wild denkend durch Zeit und Raum reisen.

Denn was als holprige Landpartie beginnt, entwickelt sich bald zu einer lehrreichen, aber nie gelehrten Tour de force durch die (von Gewalt geprägte) europäische Geschichte. Denn mittels eines grandiosen Tricks – das Buddha-Zitat am Beginn lässt es erahnen – kreiert Enard aus dem Gesellschaftstableau des Ortes einen weitverzweigten Stammbaum, der kreuz und quer durch die Jahrhunderte reicht. Der Trick heißt Reinkarnation, und durch ihn – mittels hin und her wandernder Seelen – kann Enard durch Epochen, Landschaften und Leidenschaften reisen, wie es ihm beliebt – und uns gefällt.

Der Höhepunkt dieses Husarenrittes – hier schließt sich der Kreis zum großen Fressen – ist das titelgebende Bankett, das in jener Abtei stattfindet, in der einst der Schriftsteller François Rabelais weilte und in der sich nun 99 Totengräber versammeln, um ein gargantueskes Gelage zu feiern. Mathias Enard hat ein überbordendes Wunderbuch geschrieben – ein lukullischer und literarischer Hochgenuss. Er trägt den Roman nicht zu Grabe. Er erweckt ihn geistreich zu neuem Leben.

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Buchtipp: Mathias Enard. Das Jahresbankett der Totengräber.
Hanser Berlin, 480 Seiten, 26,80 Euro.