Er war in meine Welt gekommen, aber ich nicht in seine. Seine Welt ist eine Durchgangsstation; wohin, das weiß er nicht zu sagen.“ Er, das ist „der Engländer“, die zentrale Figur in Ulrike Edschmids neuem Roman „Levys Testament“. Namenlos ist auch die Ich-Erzählerin aus Berlin, die dem Engländer erstmals im Winter 1972 in London begegnet; in einer Stadt, die politisch überkocht: Häuserbesetzungen, linker Terror, die IRA rüstet auf, Mitglieder der Untergrundbewegung „Stoke Newington Eight“ stehen vor Gericht. Es folgt eine Odyssee durch Jahrzehnte und Länder, in denen die Revolutionen ihre ungestümen Kinder ausspucken: in Deutschland, Italien, Spanien, Portugal.

Es ist nicht das erste Mal, dass Edschmid – geprägt von dramatischen persönlichen Erfahrungen – den Verwerfungen des Extremismus literarisch beizukommen versucht. Bereits ihr viel beachteter Roman „Das Verschwinden des Philip S.“ (2013) war autobiografisch unterfüttert. Edschmid lebte in den 1970er-Jahren mit dem Filmstudenten Werner Sauber zusammen, der sich der linksextremen „Bewegung 2. Juni“ angeschlossen hatte und im Zuge eines Schusswechsels mit der Polizei ums Leben kam.

Doch „Levys Testament“ bleibt nicht bei der Anatomie des Extremismus stehen. Im ruhigen, fast distanzierten Ton berichtet die Ich-Erzählerin von unruhigen Zeiten und von einem Mann, der sich nach Zugehörigkeit und emotionaler Heimat sehnt, es sich aber eingerichtet hat in der Fremdheit. Aus der Liebe der Erzählerin zum Engländer wird später eine Freundschaft, die länger währt als das stürmische Verlangen.

Aber dann, fast beiläufig und mit großer sprachlicher Souveränität und inhaltlicher Stringenz, verändert Edschmid den Lauf dieser Beziehungsgeschichte und taucht tief ein in die jüdische Biografie des Engländers, in der die Wurzeln seiner Unbehaustheit liegen.
Die aus Polen eingewanderten Vorfahren, bislang nur Namen auf vergilbten Fotos, bekommen plötzlich scharfe Konturen: die Brutalität des patriarchalen Urgroßvaters Levy, der Opfergang des Großvaters, das lebenslange Schweigen des Vaters, das daraus resultierende Gefühl der Verlassenheit, das den Sohn, den Engländer, prägte und fast brach. Am Ende steht die Erkenntnis eines gigantischen Betruges, die Ausradierung eines Familienzweiges.

„Levys Testament“ ist ein großer Wurf, gewichtige Literatur voll Schwermut und Leichtfüßigkeit – notariell beglaubigt.

© KK

Buchtipp. Ulrike Edschmid. Levys Testament. Suhrkamp,
143 Seiten, 20,60 Euro.