Daheim bist du dort, wo nichts mehr auf dich wartet. So könnte das Leitmotiv für die Ich-Erzählerin lauten. Sie bleibt namenlos. Irgendwann im Verlauf der Geschichte, in der recht wenig geschieht und doch so viel passiert, erfährt man ihr Alter. Beiläufig erwähnt, als spiele es keine Rolle. 47 ist sie, irgendwelche Lebensträume sind ihr längstfremd geworden, auch Sehnsüchte sind eine Mangelware. Aber einen lang gehegten Wunsch erfüllt sie sich doch.

Haus am Meer


Nach einer gescheiterten Ehe und nach oft demütigenden Jahren als Arbeiterin in einer Zigarettenfabrik irgendwo im Westen möchte sie einen Neustart wagen, in einem gemieteten, reichlich maroden Häuschen am Meer irgendwo im Osten. In einem Touristenkaff. Ihr Bruder, knapp 60 Jahre alt und völlig vernarrt in eine junge Exzentrikerin, besitzt dort eine Hafenkneipe, das verhilft der Protagonistin zu einem Gelegenheitsjob als Kellnerin.

Exil in der Einsamkeit


„Daheim“, der neue, für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierte Roman von Judith Hermann, führt in eine Schweigewelt und in die Einsamkeit, die aber in diesem Fall eine fast freiwillig gewählte Art von Exil ist. Am Rande des Stillstands, fernab von großen Erwartungen. „Ich ging los, weil ich nicht mehr darüber nachdenken wollte, ob ich losgehen sollte, oder besser nicht“, heißt es in einer markanten Passage dieses suggestiven Buches, das belegt, wie viel Spannung sich aufbauen lässt in einer unspektakulären Chronik vom Lande, im seelischen Niemandsland, an einem Unort, der reich an Erinnerungen und arm an Kontakten ist.

Zersägte Frau

Nur eine Nachbarin, Mimi heißt sie und künstlerische Ambitionen hegt sie, zeigt Interesse an der neuen Ortsbewohnerin; bald wird aus den Treffen eine enge Freundschaft. Gefolgt von einer Routinebeziehung mit Mimis Bruder. Das eine ist an das andere gebunden, das eine ist, weil das andere war.
Einmal, in jungen Jahren, hätte die Frau einen Job bei einem abgetakelten Magier annehmen können – als „Zersägte Frau“, die auch zur Probe in eine Kiste steigt. Das Motiv mit der Kiste, der Falle, des Gefangenseins, kehrt in abgewandelten Formen wieder, am Ende tut sich Überraschendes auf.
Dieser enorm vielschichtige, an Schwingungen zwischen den Zeilen reiche Roman lässt viele Lesarten zu, vom Klimawandel über wachsende soziale Distanz bis zur feministischen Befreiung. Vor allem aber liefert er, in souveränem Stil, ein Zustandsbild unserer Tage, das „Alleinigersein“ inklusive.

Lesetipp:

Judith Hermann. Daheim. S. Fischer-Verlag. 192 Seiten, 21,90 Euro.