Das Foto stammt aus dem Jahr 1910. Es zeigt einen schmächtigen Herrn mit Gehstock und markantem Hut. Recht souverän und gelassen scheint er an der Reling eines Ozeanriesen zu lehnen, in Wahrheit ist er todkrank. Und er weiß das auch. Diese letzte Übersee-Reise von Gustav Mahler, auf der das Foto entstand, bildet den Auftakt und das Zentrum von Robert Seethalers neuem Werk „Der letzte Satz“.

Es ist keine literarisch ausgeschmückte Mahler-Biographie. Es ist ein Künstlerroman, exemplarisch für ein exzentrisches, zwiespältiges, egoistisches und von selbstzerstörerischem Taten- und Schaffensdrang getriebenes Genie, das sich in seinem kurzen, nur knappe 51 Jahre dauernden Leben immer wieder selbst im Weg stand. Klar weckt diese Geschichte auch Assoziationen hin zu Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“, für die Mahler die optische Blaupause lieferte, noch mehr aber gewiss zu Luchino Viscontis grandioser Verfilmung, die aus Mahler fast eine Pop-Ikone machte.

All das liegt Robert Seethaler fern. Distanziert, fast emotionslos schildert er die ersten Episoden von Gustav Mahlers Rückschau auf sein an Licht und Schatten reiches Leben, beherrscht immer wieder vom Gefühl der Einsamkeit. Fiebernd liegt er zumeist auf dem Sonnendeck des Schiffs, ein Schiffsjunge wird zu seinem wichtigsten Gesprächspartner und Zuhörer. Wer allerdings homosexuelle Anspielungen oder Neigungen erwartet, ist auf dem falschen Dampfer.

Robert Seethaler nahm einige Anleihen bei der an privaten Tragödien reichen Lebensgeschichte von Gustav Mahler; sei es der Tod seiner kleinen Tochter oder das Scheitern seiner Ehe mit Alma Mahler, die letztlich nur noch Mitleid für den Künstler empfindet, seien es die Jahre als Operndirektor in Wien oder das ernüchternde Treffen mit Sigmund Freud. Wer sich aber präzisere Details zu Mahlers Leben oder gar musiktheoretische Abhandlungen erwartet, ist bei den in Hülle und Fülle vorhandenen Biographien weitaus besserer aufgehoben.

Denn Seethaler erzählt eine, seine ureigene Geschichte über ein zum Teil geglücktes, aber auch durch Scheuklapprigkeit verfehltes Leben. Und der Autor tut dies mit der Bravour eines Dirigenten, der von einem imaginären Pult aus jedes Wort, jeden Satz an seinen richtigen Platz geleitet. Im Mittelpunkt steht ein Künstler, der sein Dasein obsessiv, rücksichtslos, besessen, voll und ganz der Musik verschreibt und dabei völlig übersieht, wie viele seelische und private  Leerstellen und fatale Disharmonien sich daraus ergeben. Von bösartiger Resignation ist in einer Passage des Buches die Rede. Diese Bösartigkeit kommt auch auf andere Weise zum Ausdruck, etwa durch die Verachtung der Musiker. Schließlich galt Mahler ja auch als "Höllenhund am Pult."

Dass sich Seethaler dabei zuweilen in einen Bernhardschen Furor hineinsteigert, ist keineswegs epigonal, es fügt sich ein in die poetisch vielschichtige Partitur. Das Orchester sei eine "grundtief geist- und hoffnungslose Angelegenheit", heißt es an einer Stelle, wobei immerhin die New Yorker Philharmoniker gemeint sind, einer Horde von "phlegmatischen und kunstfernen Ahnungslosen" gleich, kaum in der Lage, eine Bratsche von einer Geige zu unterscheiden.

„Der letzte Satz“, das zeigt sich bei der Lektüre rasch immer klarer, ist eine eindringliche, in ihrer Intensität sehr weise und raffiniert aufgebaute und im Finale zutiefst berührende Abschiedssymphonie, komponiert in einer Sprache, der faszinierende, grandiose Klangnuancen innewohnen.

Robert Seethaler.  Der letzte Satz. Hanser, 126 Seiten, 19,60 Euro.
Robert Seethaler. Der letzte Satz. Hanser, 126 Seiten, 19,60 Euro. © KK