Ein wunderbares Werk, rabenschwarz, urkomisch und mit durchaus wohltuender Wirkung, obwohl an Leichen keinerlei Mangel besteht. Gerhard Henschel, der als Autor einen 25-Stunden-Tag haben muss und unermüdlich an seiner grandiosen deutschen Dichter-Saga schreibt, besann sich all seiner ebenso herausragenden Qualitäten als Satiriker (er schrieb ja u. a. für „Titanic“) und Meister der subtilen Hochkomik. Das Resultat ist eine enorm pointierte Mischung aus Rachefeldzug, Parodie, Notwehr-Aktion, die in ein Massaker mündet.
In „SOKO Heidefieber“ nimmt Gerhard Henschel nicht nur die kaum noch zählbaren Provinz- und Regionalkrimis ins Visier, er schickt auch einen Serienkiller ins turbulente Geschehen. Und der hat nur ein Ziel: Er verübt an den mitunter stümperhaft schreibenden, aber stinkreichen Autoren exakt eine jener Gräueltaten, die sie in ihren Schwarten schildern. Es wird eine reichlich blutige Angelegenheit, aber völlig schräg und überdreht.

"Angewandte Literaturkritik"

Ein sprachliches Feuerwerk, an dem auch ein ebenfalls exzellenter Dichter teilnehmen darf oder muss. Frank Schulz, Lieblingsautor vonHarry Rowohlt, der ja seinerseits mit Onno Viets einen skurrilen Ermittler aus dem Schreibärmel schüttelte, bekommt eine maßgebliche, aber überaus schmerzvolle Rolle in diesem Heide-Halali zugeschanzt. Schulz meint über das Treiben des Täters, der auch in Österreich und der Schweiz zuschlägt, eher lakonisch, der Mörder betreibe halt „angewandte Literaturkritik“. Dieser Satz hat verheerende Konsequenzen. Die „Bild“-Zeitung interpretiert ihn, gewohnt seriös, etwas anders und bläst zur Hetzjagd auf Schulz.

Geniestreich


Aber all das sind nur einige Handlungsfäden, an denen Gerhard Henschel virtuos zieht, nebstbei gibt er auch noch Sprachunterricht, vom Ostfriesischen bis zum Tirolerischen, ermittelt wird natürlich auch, schließlich ist es ein Krimi im Krimi im Krimi. Wer noch auf der Suche nach dem wohl witzigsten und geistreichsten Roman dieser Saison ist, kann und muss einfach bei diesem kriminellen Geniestreich landen.


Gerhard Henschel. SOKO Heidefieber. Hoffmann und Campe. 288 Seiten, 18,50 Euro.

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Ein Salut für Mary


Sie war, zumindest in ihren Texten und ihren meist gefürchteten Auftritten in der Öffentlichkeit eitel, exzessiv, selbstfällig, obsessiv – vor allem aber rüttelte sie gewaltig an den ohnedies schiefen Fassaden der biederen Bürgerlichkeit. Knappe 19 Jahre alt war die gebürtige Kanadierin Mary MacLane, als sie 1902 ihr Debütwerk veröffentlichte: „Ich erwarte die Ankunft des Teufels“ hieß es ursprünglich, ehe der Verlag angesichts des für damalige Zeiten enorm schockierenden Inhalts einen völlig sachlichen Titel wählte. Es war in der Tat ein unglaublicherTextbrocken, den Mary MacLane der Öffentlichkeit mit Blitz und Donner vor die Füße schleuderte.
Aber das zur Schau gestellte Entsetzen und die Gier auf Neues, Schockierendes sind halt immer noch zwei Paar Schuhe. Das diabolischeTagebuch, das exakt drei Monate umfasste, wurde zu einem enormen Verkaufserfolg, die Autorin, die in einer muffigen Bergwerkstadt aufwuchs, fand in den USA ihre Zweitheimat.

"Ausgehungerte Seele"

Nun endlich wurde dieser grandiose Erstling ebenso großartig von AnnCotton übersetzt, als literarisches Manifest einer Feministin, die sich stets auch offen zu ihrer Bisexualität bekannte, die mit viel Spott und Hohn und Sprachgewalt auf die Männerwelt feuerte und, nach eigenen Worten, gierig war nach Ruhm. Den schrieb sie sich in ihrem Tagebuch vorsorglich gleich einmal selbst auf den Leib, denn ihrer eigenen Genialität schien Mary MacLane nie zu zweifeln.
Nur selten zeigt sie ihr anderes, wohl ebenso wahres Gesicht und vor allem ihre „ausgehungerte Seele“. Wenig verwunderlich. Das Buch schrieb sie in einem Provinznest, sie bezeichnete die Chronik als „Dokument von drei Monaten Nichts“ – und um dieses Nichts zu überwinden, auszulöschen, machte sie sich selbst zur größten Erscheinung und Erfindung zugleich. Und will nichts lieber, als mit dem Teufel Dialoge zu führen.
Ein in vielerlei Hinsicht imposantes, emotionsreiches Werk einer sprachmächtigen Autorin, die schonungslos offen im Hier und Jetzt lebte und das wohl auch heute so tun würde. Auch eine Form der Wiederentdeckung.


Mary MacLane. „Ich erwarte die Ankunft des Teufels“. Ins Deutsche übersetzt von Ann Cotton. Reclam, 206 Seiten, 18,50 Euro.

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Austeilen und einstecken

Tristesse, gekoppelt mit vagen Hoffnungsschimmern und trügerischen Illusionen – das sind nur einige markante Merkmale aktueller und famoser literarischer Meisterwerke, die in den tiefsten Ecken und Winkeln der französischen Provinz angesiedelt sind. David Lopez reiht sich mit „Aus der Deckung“ nahtlos ein in diese ebenso beklemmenden wie berührenden Blicke auf eine Generation, die mitunter auch die Endstation Sehnsucht bereits hinter sich gelassen hat. „Dampf ablassen“ ist die Devise der Protagonisten, die auch emotional ziemlich in den Seilen hängen. So wird denn auch ein Trainingscenter für angehende Boxer zu einem Zentrum einer konturlosen Kleinstadt, in der auch die Kleinkriminalität wuchert und gedeiht.

Tiefschläge


Der Autor, 35 Jahre alt, weiß gewiss nur allzu genau, worüber er, temporeich, in einer äußerst rhythmischen Sprache schreibt. Er schlug sich selbst als Rapper und mittelmäßig begabter Boxer einige Zeit durch das Leben. In seiner Heimat wurde dieses an Tiefschlägen reiche Werk zur französischen Version von „Rocky“ ernannt, das ist keineswegs verfehlt. Jonas, die Hauptfigur des Romans, hätte alle Veranlagungen für eine Karriere im Ring, was ihm, ihm wahrsten Sinn, fehlt, ist die dafür erforderliche Antriebskraft. Er teilt aus, er steckt ein, er kifft und trinkt mit seinen Freunden und hält es eher mit einem ungeschriebenen Gesetz: Wer das Kaff verlässt, um anderswo auf Erfolg zu hoffen, gilt als Verräter.
Aber „Aus der Deckung“ ist keineswegs nur ein Boxer-Roman, es ist ein teils wuchtiges, teils sehr poetisches Zustandsbild; es präsentiert Randfiguren, die keinerlei Ansprüche mehr stellen an die „Welt da draußen“, in der Gewissheit, dass dort ohnehin nur noch weitere Tiefschläge auf sie warten. Ein herausforderndes, bedeutsames Debüt, in die Literaturlandschaft geschickt von einem Schriftsteller, der weiß, wie man Blut, Schweiß und Tränen zu Papier bringt.

David Lopez. Aus der Deckung. Hoffmann und Campe. 256 Seiten, 24,70 Euro.

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Heine und die Pandemie

Zum Finale noch ein Klassiker-Tipp, der so manche aktuellen Ereignisse in einem anderen Licht erscheinen lässt. „Heinrich Heine ist der bedeutendste Journalist unter den deutschen Dichtern und der berühmteste Dichter unter den Journalisten der ganzen Welt“, sagte Marcel Reich-Ranicki über Henry den Großen. Eine seiner düstersten Reportagen ist nun mit einem Faksimile des Original-Artikels erschienen: „Ich rede von der Cholera“ ist ein Bericht aus dem Jahr 1832, entstanden in Heines französischem Exil, über das Wüten der damaligen Cholera-Pandemie in Paris. Schon damals wurden Fake News über das Ausmaß der Seuche verbreitet, per Mundpropaganda, schon damals standen Vertuschungen und Verharmlosungen von unfassbarem Ausmaß an der Tagesordnung. Heines Antwort darauf: „Die Salons lügen, dieGräber sind wahr“. Einer unter vielen Sätzen, die es verdienen, eingerahmt zu werden.


Heinrich Heine. Ich rede von der Cholera. Hoffmann und Campe, 62 Seiten, 14,40 Euro.

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