"Als Gegor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ So beginnt Franz Kafkas berühmte Erzählung „Die Verwandlung“ aus dem Jahr 1912. „Als Jim Sams, klug, doch beileibe nicht tiefgründig, an diesem Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in eine ungeheure Kreatur verwandelt.“ Und so beginnt Ian McEwans bereits vor Erscheinen heiß diskutierter Roman „Die Kakerlake“.

Mit folgendem Unterschied: Bei Kafka verwandelt sich der Mensch in ein Ungeziefer – bei McEwan ist es genau umgekehrt. Jim Sams war früher eine Kakerlake, beheimatet im Londoner Parlamentsgebäude. Als er aufwacht, ist er ein Politiker. Genauer gesagt, der britische Premierminister.

Und genau hier beginnt nicht nur das große Krabbeln, sondern auch das große Unbehagen mit diesem schmalen, aber heftigen Wutausbruch des deklarierten Europäers. Politiker, auch wenn sie einem unlieb sind und bar jeder Vernunft, als Ungeziefer darzustellen, hat eine lange, unglückselige Tradition. Sich in diese einzureihen, ist eines intellektuellen Kalibers und herausragenden Autors wie McEwan nicht würdig.

Warum er es sehenden Auges dennoch getan hat, bleibt ebenso unergründlich wie das Handeln so manchen – echten – britischen Politikers. Solcherart wird die Chance, berechtigte Kritik an realen Absurditäten zu üben, durch billigen Theaterdonner vertan.

Und der Roman selbst? Ian McEwan hat noch keine schlechte Zeile geschrieben – und tut es auch diesmal nicht. Seine Kakerlakenhorde – denn nicht nur der Premierminister ist ein Krabbeltier, auch (fast) alle Regierungsmitglieder sind es – versucht mit allen Mitteln, das United Kingdom auf dem Weg des sogenannten Reversalismus in die glorreiche Unabhängigkeit zu führen.

Diese abstruse Theorie, eine Umkehr des Geldflusses, ist ähnlich weitblickend wie ein No-Deal-Brexit. In Wahrheit will die Kakerlaken-Armada natürlich das Chaos – also idealen Nährboden für Ungeziefer aller Art.

Dieses ideologische Unterfutter ist durchaus originell. Und wenn sich McEwan durch diverse politische Unappetitlichkeiten – Ausschaltung politischer Gegner mittels #MeToo-Denunziation, Aktivierung des Patriotismus mittels Hervorzauberns eines Sündenbocks – arbeitet, läuft er zur Hochform auf.

Dennoch: Große Literatur ist das sehr selten, eine große, bitterzüngige Abrechnung allemal.

Zum Buch:
Ian McEwan. "Die Kakerlake". Diogenes. 144 Seiten, 19,60 Euro.

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