Die wichtigen Bücher des Lebens findet man nicht, sie finden einen. Dafür muss der Zeitpunkt stimmen. Und der Ort. Bei einem seiner zahlreichen Streif- und Erkundungszüge durch die verschlungenen Eingeweide Venedigs stieß Gerhard Roth in der Buchhandlung „Acqua Alta“, in der unzählige durch das Hochwasser beschädigte Druckwerke lagern, auf ein stark mitgenommenes, aber noch immer beeindruckend schönes Buch. Es handelte sich um eine reich illustrierte Ausgabe von Dantes „Inferno“. Roth musste das Buch natürlich haben. Er bekam es. Der Kaufpreis: ein Euro.

Venedig, La Serenissima, die Allerdurchlauchteste. Noch geht es einigermaßen ruhig und gelassen zu in diesem touristischen Taubenschlag. Die Gondeln schaukeln schmatzend im dunklen Lagunenwasser, der morgens noch milchige Himmel zieht sich mittags sein blassblaues Frühlingskleid über, an der Riva degli Schiavoni klatschen die Vaporetti beim Anlegen an die Holzbohlen.

Für Gerhard Roth ist es ein Abschied von Venedig
Für Gerhard Roth ist es ein Abschied von Venedig © Martin Goriup



All das wird Gerhard Roth – der Stadt verfallen, seit er im Alter von 14 Jahren ungläubig staunend erstmals auf sie traf – nicht mehr oft sehen, denn er ist hier, um Abschied zu nehmen. „Es ist wie bei einem Begräbnis. Venedig wird fortan nur noch in meinem Kopf existieren“, sagt der Schriftsteller und man spürt, dass ihm dieses Weggehen so schwerfällt wie die Trennung von einem Lebensmenschen. „Ich bin sehr unbegabt im Abschiednehmen, aber es muss sein. Meine Gedanken sind immer in Venedig. Das muss weg, ich muss frei sein. Frei für das neue Buch.“

Die Tiefen und Untiefen der Stadt

Doch in den letzten Jahren ist Gerhard Roth mit Haut und Haaren, mit Herz und Hirn, mit seinem ganzen Denken und Fühlen in den Tiefen und Untiefen dieser Stadt untergetaucht. Denn hier und nur hier konnte er seine Trilogie, nein: sein Triptychon ansiedeln. Hier und nur hier konnte er im ersten Teil seinen Michael Aldrian, einen Maestro Suggeritore an der Wiener Staatsoper, auf eine taumelnde Irrfahrt durch Himmel, Hölle und Stadt schicken.

Nur hier kann er jetzt im zweiten Teil einen Shakespeare-Satz Romantitel und Weisheit werden lassen: „Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier“. Das Buch erscheint diese Woche. Und nur hier wird im dritten Teil, der 2021 erscheinen soll, Leviathans Ende über die Bühne gehen. „In allen drei Büchern geht es um die Suche nach dem Paradies“, sagt Roth und deutet auf die Kirche San Pantalon. „Es gibt kein Paradies. Aber wir müssen danach suchen, um überleben zu können.“

Zwischen Himmel und Hölle

In San Pantalon hat die Romanfigur Michael Aldrian immer wieder Zuflucht und Trost gesucht. Dort, wo auf einem riesigen Deckengemälde von Gian Antonio Fumiani unzählige Engel ins scheinbar Bodenlose stürzen. Ein grandioser Tumult, der den Himmel und die Hölle symbolisieren soll, und ein Ort, an dem man spürt, wie nahe beides beieinanderliegt. Dass der Künstler nach Vollendung dieses Werkes vom Gerüst zu Tode stürzte, ist vermutlich eine Legende. Gerhard Roth wirft eine Münze in den Apparat, damit das Gemälde beleuchtet wird. „Rätsel können gelöst werden“, sagt er. „Aber das Rätselhafte wird bleiben.“

Nur in Venedig, dieser Stadt der Masken, konnte Roth seine neuen Romane ansiedeln
Nur in Venedig, dieser Stadt der Masken, konnte Roth seine neuen Romane ansiedeln © Martin Goriup

Venedig. Die Stadt der Rätsel und Masken, die Stadt des Tarnen und Täuschens, die Stadt des Erblühens und Verfaulens. In Venedig sieht man alles, wozu der Mensch fähig ist – im Guten wie im Bösen. Was er liebt, was er hasst, was er sich wünscht, was er fürchtet. Durch die beiden Säulen auf der Piazzetta, wo jetzt Selfies geschossen werden, wurden früher zum Tode Verurteilte getrieben. Gerhard Roth weist auf den danebenliegenden Dogenpalast: „Diese Stadt in ihrer Widersprüchlichkeit ist das perfekte Abbild des menschlichen Gehirns. Und der Dogenpalast, dieses grandiose Gebäude, ist eine Miniatur dieses Abbildes. Auf der Vorderseite die schönen Räume, die großartigen Bilder. Der Himmel also. Im Mittelteil des Palastes befindet sich der Gerichtsteil. Und im hinteren Teil liegen die Folterkammern und Gefängnisse, die Hölle also.“ Oder das Inferno. Dante. Man findet Bücher nicht.

Für die Recherche zum Venedig-Zyklus hat Gerhard Roth jeden Buch-Schauplatz erkundet, jede Gasse durchstreift, jede Brücke überquert. Immer weiter haben sich die kunstvollen Flügel des Triptychons geöffnet und den Blick freigegeben auf ein gewaltiges Panoptikum an Figuren, Ideen, Entwürfen, Gedanken- und Sehnsuchtswelten. Und ewig suchend und wie beim Kinderspiel auf einem Bein zwischen Himmel und Hölle hin und her hüpfend wie seine Büchermenschen auch deren Schöpfer, der Autor selbst.

Die Suche nach dem Paradies

Suchend nach der Wahrheit, die man nur dann finden kann, wenn man an ihr zu zweifeln beginnt; suchend aber vor allem nach: Gott. „Die Suche nach dem Paradies, die sich wie ein roter Faden durch diese Bücher zieht, hat natürlich mit dem Schöpfungsmythos zu tun“, sagt Gerhard Roth, um sich dann selbst diese Fragen zu stellen: „Bin ich ein Glaubender, ein Gläubiger?“ Die Antworten, die vielen Antworten: „Ich bin ein Zweifelnder, dann wieder ein Wütender, weil sich die Kirche darstellt wie das Jüngste Gericht – und das darf sie nicht! Aber wenn es keinen Gott gibt, wäre der Glaube eine Wahnvorstellung.“

Der Schrifsteller vor der Statue des Heiligen Franziskus
Der Schrifsteller vor der Statue des Heiligen Franziskus © Martin Goriup

Venedig, auch die Stadt zwischen Wahn und Sinn. Bevor er auf der Suche nach seinem verschwundenen Bruder in eine atemlose Verbrechensgeschichte verwickelt wurde, wollte Michael Aldrian einen Reiseführer Venedigs der etwas anderen Art schreiben. Dafür fuhr er auch auf die Insel San Servolo. Dorthin tuckert jetzt das Vaporetto, auf dem sich eine amerikanische Touristengruppe bemüht, lauter zu sein als der Motorenlärm. Die Möwen, die auch hier wie Emmas aussehen, hocken auf den Holzpfählen, an denen das Schiff vorbeifurcht. „Ich besuche Irrenhäuser und Venedig. Beides nicht ohne Grund.“

Auf San Servolo befand sich bis 1978 eine Irrenanstalt, und hier stieß Gerhard Roth im Zuge seiner Recherchen auf die Umrisse von Gräbern. Die Frage, ob sich hier einmal ein Friedhof befunden habe, auf dem möglicherweise Insassen der Anstalt verscharrt worden sind, wurde vom Vizedirektor des jetzigen Museums energisch verneint. Doch Roth insistierte und verlangte eine befriedigende Antwort. Da griff der Vize genervt zum Telefon, fragte beim Bürgermeisteramt der Stadt nach und erhielt dort die Auskunft: Si! Also doch, der manische Faktensucher Roth hatte recht gehabt.

Der Irrsinn der Menschen

Verwucherte Wiesen, eine kleine Kapelle. Wenn man die wenigen Stufen hochsteigt, sieht man tatsächlich die Gräberumrisse. „Jeder einzelne Mensch hat ein eigenes Universum im Kopf. Und es ist ein Irrsinn, mit welchen Mitteln die Menschen ihren Mitmenschen den oft vermeintlichen Irrsinn austreiben wollten.“ Im Museum des „Insane Asylum“ sieht man: Zwangsjacken, Fesselwerkzeuge, aber auch kunstvolle Handwerksarbeiten, die die Insassen hergestellt haben. Ob in Gugging oder hier auf San Servolo, Menschen abseits der Norm – und oft die Künstler in ihnen – haben immer eine empathische Neugier auf Gerhard Roth ausgeübt. „Ich habe diese Menschen aber nie geschönt. Das Wunderbare an ihnen ist, dass diese Künstler ihrem Inneren folgen und keinem äußeren Kunstverständnis.“

Es ist kein Zufall, wie nichts auf diesem literarischen Abschiedsspaziergang, dass der letzte Weg wieder auf eine Insel führt, diesmal auf San Francesco del Deserto. Kein Linienschiff fährt hierher, nur das Privatboot. Im Franziskanerkloster, in dem es täglich nur zwei kurze Zeitfenster für Besucher gibt, herrscht absolute Stille. Und hier schließt sich für Gerhard Roth ein anderer Kreis. „Noah und seine Arche, La Fontaine und seine Fabeln, der Zoologe und Bienenforscher Karl von Frisch und jetzt und hier Franziskus. Sie alle hatten mit Tieren zu tun, und Tiere spielen in allen meinen Büchern eine Rolle. Denn sie sehen den Menschen so, wie er wirklich ist. In all seinem Zwiespalt, in all seiner Grässlichkeit und Schönheit.“

Auf der Franziskanerinsel

Und jetzt und hier macht sich Gerhard Roth vor der Statue des heiligen Franz von Assisi, vor jenem Mann, der mit den Tieren sprach, ganz klein und sagt: „Wie kann ein Mensch eine Uniform anziehen, töten, die Uniform wieder ausziehen und als liebender Vater zu seiner Familie nach Haus gehen? An den Fragen über den Menschen sind schon viele Menschen zerbrochen.“

Der Franziskanerpater schließt die Pforte und plötzlich zerfetzt laute Musik von einem vorbeifahrenden Boot die Stille. Wie sagt Gerhard Roth? „Es gibt kein Paradies.“ Aber man muss zeitlebens danach suchen.

Gerhard Roth durchwandert alle Schauplätze seiner Venedig-Romane
Gerhard Roth durchwandert alle Schauplätze seiner Venedig-Romane © Martin Goriup

Zur Information:
Gerhard Roth, geboren am 24. Juni 1942 in Graz, ist ein vielfach ausgezeichneter österreichischer Schriftsteller. Bekannt wurde er mit seinen beiden großen Roman-Zyklen „Die Archive des Schweigens“ und „Orkus“. Derzeit arbeitet Roth an seinem „Venedig-Triptychon“. Der erste Band, „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“, wurde 2017 veröffentlicht, der zweite Band erschien diese Woche. Die Trilogie wird 2021 beendet.
Gerhard Roth. Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier.
S. Fischer, 368 S., 25,70 Euro.