"Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." Immer wieder wurde diese warnende Botschaft, die Bert Brecht als Epilog seinem Stück "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" nachstellte, literarisch neu formuliert. "Schotter", das neue Buch von Florjan Lipuš, steht genau in dieser Tradition. Und ist doch ganz anders als die meisten Romane, die sich mit der NS-Vergangenheit beschäftigen.

Klagelied gegen das Vergessen

Wer Bücher wie "Der Zögling Tjaž" oder "Boštjans Flug" gelesen hat, weiß, dass man sich auch für ein schmales, knapp 140 Seiten umfassendes Buch des auf Slowenisch schreibenden Trägers des Großen Österreichische Staatspreises 2018 viel Zeit nehmen muss. Für "Schotter", vom Verlag als "ein literarisches Denkmal, ein Klagelied im Widerspruch gegen das Vergessen und die Vergeblichkeit des Leidens" annonciert, gilt das in besonderem Maß. Denn nicht nur ist Lipuš stets auf der Suche nach Formulierungen, deren Widerhaken ein glattes darüber Hinweglesen verunmöglichen, sondern entzieht sich auch das gewählte Thema einer bloß flüchtigen Lektüre.

Kindheitstrauma

Florjan Lipuš, am 4. Mai 1937 in Lobnig/Lobnik bei Eisenkappel/Železna Kapla geboren, musste als Kind mitansehen, wie seine Mutter - nachdem sie eine als Partisanen verkleidete Gruppe von Gestapo-Männern bewirtet hatte - vor seinen Augen verhaftet wurde. Sie wurde im KZ Ravensbrück ermordet, während sein Vater in der Wehrmacht dienen musste. In seinem neuen Buch lässt er Dorfbewohner einen "Gedächtnismarsch" in ein Konzentrationslager antreten, in das einst zahlreiche Frauen des Dorfes deportiert wurden. Nur wenige kehrten, zerstört an Körper und Seele, zurück. Der titelgebende Schotter befindet sich am ehemaligen Appellplatz der nunmehrigen Erinnerungsstätte, wo die inhaftierten Frauen unter ständiger Drohung, bei der kleinsten Bewegung durch Genickschuss ermordet zu werden, immer wieder stundenlang strammstehen mussten. Alleine die Passagen, in denen über die nackten Füße der Frauen und den Untergrund, über das Verhältnis von Ferse, Sohle und Seele, Tod und Erde reflektiert wird, sind atemberaubend.

Ans Messer liefern

Lipuš lässt mehrere zeitliche Ebenen ineinanderfließen. Er schildert jene Zeit, in der die Dörfler ansatzlos bereit waren, einander ans Messer zu liefern, einander zu verraten und in den sicheren Tod zu schicken, egal ob es sich um Nachbarn oder Verwandte handelte. Gleichzeitig lässt er keinen Zweifel daran, dass es jederzeit wieder dazu kommen könnte, dass weder die Menschheit im Gesamten noch die kleine Gemeinschaft im Besonderen durch das Durchlittene in irgendeiner Weise besser, menschlicher oder solidarischer geworden ist. Lipuš beschreibt den Besuch der "Gedächtnisgeher" im Lager und ihren Versuch, den hier verübten Verbrechen, dem hier erlittenen Leiden nachzuspüren - bis hin zu dem spielerischen "Appellstehen" eines Mädchens und eines Buben in memoriam ihrer Großmutter.

Das Trennende ist nicht überwunden

Diese Spurensuche, dieses Aufnehmen eines verlorenen Erinnerungsfadens, steht im Zentrum. Die Bilder, die Lipuš dabei in großer Sensibilität entstehen lässt, gehen unter die Haut. Umso erschreckender ist jedoch die ebenfalls eingearbeitete Reaktion, die den aus dem Lager heimkehrenden Besuchern daheim entgegenschlägt: Nicht nur Gleichgültigkeit oder Unverständnis, sondern sogar offene Aversion begegnet jenen, die nicht vergessen wollen. Das Trennende, in dem, wer möchte, man die unterschiedlichen Sprachgruppen Kärntens erkennen kann, wird nicht überwunden. Im Gegenteil. "Die Überreste des Krieges haben sich in den Köpfen verfestigt, der Samen, schon vor Ewigkeiten in die Gesellschaft gelegt, keimt und treibt." Der Erzähler kennt vielleicht nicht die Welt, sein Dorf kennt er aber. Und das stimmt ihn keineswegs optimistisch. "Es ist in der Luft, als keimte etwas, als bereite sich etwas vor." Ein leises Buch von großer Wucht.