Ein Vietnam-Kämpfer rettet sich in letzter Sekunde aus einem brennenden Flugzeug. Er landet samt Fallschirm unsanft, aber halbwegs heil in einem Feigenbaum. Ein Einwanderer aus China pflanzt in den USA einen Maulbeerbaum. Als dieser verdorrt, versiegt auch jeglicher Lebenswille des Mannes. Ein anderer Zuwanderer, aus Norwegen, wird nach mehreren Etappen, die in Brooklyn beginnen, in der Prärie von Iowa sesshaft. Sechs Kastanien hat er in der Tasche. Er pflanzt sie ein; nur ein Baum überlebt die Hitze und Trockenheit. Durch einen Blitz wird er gespalten, aber er blüht und gedeiht auch weiterhin.

Neun Protagonisten und Protagonistinnen prägen den ersten Teil der grandiosen Naturkomposition in Worten, die Richard Powers mit „Die Wurzeln des Lebens“ schuf. Eines eint all diese Menschen: Nicht nur ihr Lebensweg oder ihr Schicksal ist unmittelbar mit Bäumen aller Art verknüpft; es prägt auch das Denken und Handeln ihrer Nachkommen. Querbezüge ergeben sich aus diesen Episoden vorerst nicht, aber sie rücken die wahren Hauptdarsteller in den Mittelpunkt: Bäume und Wälder sind es.

Vier Milliarden Jahre alt sind sie, kaum zählbar in all ihren Erscheinungsformen, noch immer rätselhaft durch ihre Überlebensstrategien. Der Biologin Patricia Westerford bleibt es in diesem furiosen, mitunter in zornigen Tönen gehaltenem Werk vorbehalten, das raffinierte Kommunikationssystem und das Gemeinschaftsleben der Bäume zu entdecken.

Richard Powers beschäftigte sich etliche Jahre lang mit den zahllosen Eigenheiten der Bäume, er bringt Mythen in Spiel, vor allem aber reduziert er die Menschen, unfähig, Bäume als Lebewesen zu respektieren, auf die ihnen gebührende Winzigkeit. Jetzt, in der nahenden Weihnachtszeit, meist bestenfalls in der Lage, eine Tanne von einer Fichte unterscheiden zu können. aber sonst ahnungs- und ratlos im Walde zu stehen.

Aber eines haben all die Bäume, seien es die mystischen Mangroven, die Elefantenbäume mit ihren knorrigen Rüsseln, die Mammutbäume oder die indischen Salbäume, die raketengerade in den Himmel wachsen - sie kennen den Livestream der Erde, für den wir völlig taub sind.
Der Fortschrittswahn, das gnaden- und hirnlose Abholzen der Wälder, der Klimawandel, all das führt in Powers aus vier Teilen bestehenden Roman zu einem Zusammentreffen seiner Romanfiguren. Sie engagieren sich als Umweltschützer, sie werden abgekanzelt als Öko-Terroristen. Derzeit zu erleben in Norddeutschland, im Hambacher Forst, wo die Holzknüppel regieren.

Es ist eine mit viel Wissen angereicherte, berührende, beklemmende und durch düstere Perspektiven geprägte Entdeckungsreise, zu der Richard Powers einlädt. Reich an Geschichten , die er mit feinstem Sensorium der Natur ablauschte. „Wurzeln“, „Stamm“, „Krone“, „Samen“, so lauten die vier Kapitel dieser soghaften Ode an die Natur, die zugleich auch ein Abgesang ist. Auf eine Menschheit, die blindwütig an ihrem eigenen Ast sägt. Ein Pflichtbuch des Jahres, zweifellos.