Was wäre, wenn Andrea nicht diese furchtbare Erfahrung gemacht hätte? Wäre sie weiter die introvertierte, eher antriebslose junge Frau geblieben, die mit 31 Jahren noch am Rockzipfel der Mutter hing? Das Schicksal und Karin Slaughter wollten es anders. In ihrem neuen Thriller lässt die US-amerikanische Erfolgsautorin ihre Heldin just an deren 31. Geburtstag in einen tödlichen Alptraum schlittern.

"Ein Teil von ihr" ("Pieces of Her") heißt das Buch der preisgekrönten Schriftstellerin aus Atlanta (Georgia). Und wie immer ist ihre Story knallhart und ihr gesellschaftskritischer Blick gnadenlos. Man kennt es von der 47-Jährigen, dass sie genau hinter die Kulissen des Establishments und die Fassaden der sogenannten feinen Gesellschaft schaut, in denen ebenso wie in anderen Teilen der Bevölkerung das Böse einen breiten Raum einnimmt.

Andrea, genannt Andy, ist Teil dieser Gesellschaft, in der sie einfach keinen richtigen Platz findet. In New York gestrandet und nun wieder in der heimischen Umgebung von Belle Isle in Georgia, fühlt sie sich unwohl. Sie ist desillusioniert, da ihr gar nichts gelingen will - im Gegensatz zu ihrer erfolgreichen Mutter Laura. Bewundernd schaut sie zu der allseits anerkannten Logopädin auf, die ihr gegenüber stets liebe- und verständnisvoll ist.

Bis zu ihrem Geburtstag. Denn da geraten Mutter und Tochter in einem Cafe in die Schusslinie eines durchgedrehten jungen Mannes. Laura erweist sich als nahkampferprobt und todesmutig, ja kaltblütig: Sie tötet den Amokläufer mit seinem eigenen Messer, während Andy paralysiert ist und hilflos zuschaut. Für beide wird der schreckliche Vorfall zu einem Schlüsselerlebnis.

Laura muss befürchten, dass ihre Tat nicht als Notwehr, sondern als Mord gewertet wird und schickt Andy deshalb fort. Ihre Tochter soll ihr Leben in die Hand nehmen und endlich auf eigenen Beinen stehen. Völlig fassungslos steht Andy nun der neuen Situation gegenüber. Was sie zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß: Es ist der Beginn einer todbringenden Odyssee, deren Richtung aus der Ferne von Laura vorgegeben wird, deren Verlauf aber aus der Vergangenheit gesteuert zu werden scheint. Das ist die zweite Erzählebene, in deren Mittelpunkt die junge Jane steht, Tochter eines superreichen, skrupellosen Unternehmers, der sein musikbegabtes Kind quält. Verantwortungslose Eltern, schwache Geschwister und ein dämonischer Freund stürzen das Mädchen fast in den Abgrund.

Slaughter wechselt rhythmisch die Perspektiven zwischen den Jahren 1986 und 2018. Im gleichen Maße, wie sie die zeitliche Lücke füllt, entdecken Andy und Jane ihre Persönlichkeit. Erwartungsgemäß nähern sich beide Stränge immer weiter an, bis sie mit einem Paukenschlag zusammengeführt werden.

Die für ihre Grant-County- und Will-Trent-Serien bekannte und gefeierte Autorin hat wieder ihre eigene Heimat zum Hauptschauplatz des Geschehens gemacht. Doch neben dem heißen Süden Georgias führt sie ihre Figuren erstmals auch quer durch die Staaten sowie über den Atlantik nach Europa. Das Milieu, das Slaughter für ihren Stand-Alone-Thriller gewählt hat, ist dieses Mal in der Oberschicht angesiedelt. Darin thematisiert sie die Profitgier von Magnaten, die über Leichen gehen, sowie einmal mehr Gewalt gegen Frauen. Hinzu kommt ein von ihr bisher kaum beackertes Gebiet: der Linksterrorismus.

Wie immer hat Slaughter, deren Bücher bisher über 35 Millionen Mal in 37 Sprachen verkauft wurden, keine Scheu, Verbrechen in all ihrer Brutalität und Grausamkeit zu schildern. "Mir gefällt es, meine Leser zu schockieren", sagte sie einmal in einem Interview. Daneben aber beweist sie ebenso viel Gespür für die Zerrissenheit, für Sehnsüchte und Ängste, für starke Gefühle und damit verbundene innerliche Eruptionen, kurz: für die Komplexität ihrer Charaktere. Das wiederum führt zum Titel des Buches: "Ein Teil von ihr" bezieht sich natürlich auf die Verbundenheit von Mutter und Tochter, die beide neu definieren müssen.