Am Anfang der Geschichte landet die Ich-Erzählerin, Min heißt sie, auf einer kleinen türkischen Insel in der Ägäis. Die griechische Insel Lesbos befindet sich in Sichtweite. Noch sind die Horrorszenarien und Tragödien von Lesbos Jahrzehnte entfernt, vorerst gilt es, andere Schrecken aus dem Reich des Schweigens und Verschweigens zur Sprache zu bringen. Oder, wie Emine Sevgi Özdamar in ihrem jüngsten Werk „Ein von Schatten begrenzter Raum“ schreibt: „Über uns die Nacht hat aus den dunkelsten Ecken ihrer Erinnerungen etwas herausgeholt. . .“

Grenzenlose Erzählkunst

All die Geschichten, die sie in diesem so wunderbaren, so magischen, so vielschichtigem Werk erzählt, summieren sich zu einem Gesamtkunstwerk, dem man dank seiner Ausstrahlungskraft, seiner mühelosen Aufhebung aller Grenzen zwischen Realität und Träumen, Albträumen, Visionen oder Mythen nur ganz selten und alle paar Jahre einmal begegnet. Biografische Querbezüge gibt es, wie auch in den früheren Romanen dieser universellen Autorin und Schauspielerin, reichlich. Aber diese Wechselspiele aus Licht und Schatten, diese Blicke auf eine Welt in Rissen, beherrscht von größenwahnsinnigen Monstern mit Sprüngen in den Köpfen, entziehen sich jeder Kategorisierung.

Große Weggefährten

Es ist, auch, die Lebensbilanz einer sensiblen, kritischen, weitsichtigen Künstlerin, die vor einigen Monaten ihren 75. Geburtstag feierte. Seit ihrer Flucht aus der türkischen Heimat nach dem Militärputsch im Jahr 1971 und den mörderischen Treibjagden auf Oppositionelle ist sie daheim im Niemandsland. Ihren Bleibe fand sie in den Theatern, im Kreis von gleichgesinnten Künstlern, allen voran Benno Besson, John Berger und ihr Geliebter, ein Bühnenbildner. Aber der Namensreigen der Energie- und Kraftspender reicht auch von Hölderlin und Heine bis zu Brecht oder Heiner Müller. Wie in Filmsequenzen und in fast filmischer Sprache folgen auf künstlerische Glücksmomente oder eingefügte Gedichte Einblendungen wahnwitziger politischer Entgleisungen.

Gespräche mit Krähen

„Eine Pause von der Hölle“ betitelt Özdamar eines ihrer Kapitel, angesiedelt in den 1970er-Jahren. Eine Atempause nur. Anfangs sprach die Erzählerin mit Krähen, die ihr Düsteres prophezeiten, am Ende zieht sie mit den Krähen Bilanz. Es ist ein stilles, großes Leuchten in diesem Werk. Und ein Wort von Hölderlin: „Komm! Ins Offene, Freund“. Diese wunderbare Dichterin weist den Weg, Man folgt ihr nur allzu gerne.

Lesetipp: Emine Sevgi Özdamar. Ein von Schatten begrenzter Raum. Suhrkamp. 776 Seiten, 28,80 Euro.