Der tansanische Autor Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 in Sansibar) erhält überraschend den Literaturnobelpreis 2021. Diese Entscheidung gab die Schwedische Akademie heute Mittag  in Stockholm bekannt. Er erhält die Auszeichnung "für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten".

Der tansanische Autor zeigte sich begeistert. Es sei einfach wunderbar, den Preis zu erhalten, er fühle sich geehrt, eine Auszeichnung zu erhalten, die an so viele anerkannte Schriftsteller verliehen wurde. "Ich denke, es ist einfach brillant und wunderbar", so Gurnah gegenüber der Agentur Reuters.

Das Thema Flucht zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk von Gurnah - und das ist kein Zufall. Denn der  Schriftsteller hat selbst seine Heimat Sansibar Ende der 1960er-Jahren verlassen müssen.  Seit seinem 1987 erschienenen Debüt "Memory of Departure" hat Gurnah zehn Romane und eine Reihe von Kurzgeschichten veröffentlicht. Als 21-Jähriger begann der Exilant mit dem Schreiben. Obwohl Swahili seine Muttersprache ist, publiziert er auf Englisch. Seine Bücher - von "Pilgrims Way" ("Schwarz auf weiß") (1988) über "Paradise" ("Das verlorene Paradies") (1994) bis zu seinem jüngsten Werk "Afterlives" (2020) - streifen immer wieder die Themen Flucht und Kolonialismus.

Gurnah musste die Insel Sansibar als 18-Jähriger verlassen. Nach der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft wurden in seiner Heimat Bürger arabischer Herkunft, zu denen Gurnah zählt, unterdrückt und verfolgt. Seit 1968 lebt der Autor in England.

Mit Schreiben und Kolonialismus beschäftigte sich Gurnah auch als Literaturprofessor an der Universität von Kent in Canterbury. Er forschte u.a. zu Salman Rushdie, V.S. Naipaul, Anthony Burgess und Joseph Conrad. Seine Ex-Uni reagierte per Twitter überschwänglich auf die Verleihung an ihren früheren Professor. "Wir sind absolut begeistert, dass unserem ehemaligen Dozenten der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde - das ist wirklich inspirierend."

Nach Sansibar selbst konnte Gurnah erstmals erst wieder 1984 zurückkehren. Das ermöglichte ihm, seinen Vater kurz vor dessen Tod noch einmal zu sehen.

"Ich bin fast wahnsinnig geworden"

Im deutschen Sprachraum ist Gurnah nicht sehr bekannt, es sind insgesamt fünf seiner Bücher auch auf Deutsch erschienen, das letzte allerdings im Jahr 2006 ("Die Abtrünnigen"). "Ich bin fast wahnsinnig geworden, als ich das gehört habe", freut sich der Wiener Schriftsteller und Übersetzer Helmuth A. Niederle über die Zuerkennung des Literaturnobelpreises. Niederle hat dessen Roman "Die donnernde Stille" übersetzt und ihn 1999 zu einem Symposium nach Wien eingeladen.

Dort habe Gurnah in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur einen Vortrag mit dem Titel "Literatur: Eine durchwachsene Geschichte" über den "Grenzbereich zwischen Oratur und Literatur" gehalten, wie sich Niederle in einem Telefonat mit der Austria Presse Agentur erinnert. "Wir ,Weißen' neigen ja dazu, nur Verschriftlichtes 'Literatur' zu nennen. Dieser Sichtweise ist Gurnah entschieden entgegengetreten. Seine Großmutter hatte ihm Shakespeare-Texte als Geschichten erzählt, erst später hat er sie als Literatur begriffen", erzählt Niederle.

In einem Essay des Autors heiße es: "Es ist mir auch wichtig, dass Fiktion anlocken und blenden und Freude und Schmerz geben kann und dass sie nach Wahrheit streben sollte." Es gehe Gurnah in seinen Texten in puncto Kolonialismus "um ein fein ziseliertes Bild, wie sich die Menschen begegnet sind und einander erlebt haben". Er arbeite auch die Identifikation von Schwarzen - etwa in Filmen - heraus oder lasse seine Protagonisten Beziehungen zu Weißen eingehen, "die laut ihm glauben, sie müssen intensive Beziehungen zu einem Afrikaner eingehen, um irgendetwas gutzumachen", analysiert Niederle.

Dass Gurnahs Bücher seit einigen Jahren nicht mehr ins Deutsche übersetzt wurden, bedauert Niederle. Als Grund sei ihm aus der Verlagswelt vermittelt worden: "Es gibt eben Namen, die im deutschen Sprachraum nicht funktionieren."

Verliehen wird die mit zehn Millionen Schwedischen Kronen (rund 985.000 Euro) dotierte Auszeichnung am 10. Dezember, dem Todestag des schwedischen Dynamiterfinders und Preisstifters Alfred Nobel. Übergeben werden die Nobelpreise allerdings aufgrund der Pandemie neuerlich in den Heimatländern der Preisträger und nicht wie sonst üblich bei einer Zeremonie im Stockholmer Konzerthaus.

Im Vorjahr war die US-Lyrikerin Louise Glück mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden, 2019 ging die prestigeträchtige Auszeichnung an den Österreicher Peter Handke.