Warum Sandro Veronesi bei uns nicht bekannter ist und die Bücher des Italieners nicht zum Pflichtkanon jedes Literaturaficionados zählen, wissen wohl nur die Götter, aber spätestens mit seinem neuen Roman wird sich das schlagartig ändern, denn „Der Kolibri“ ist ein Fass ohne Boden, ein faszinierendes, wunderbar abstruses Labyrinth aus Figuren, Konstellationen, Ideen und Fantasien; eine Familiengeschichte voll Überraschungen, Freude, Scham und Schmerz, kurzum: Lesen Sie bitte!

Es beginnt gleich mit einem dramaturgischen Paukenschlag, als der Augenarzt Marco Carrera vom Psychoanalytiker seiner Frau erfährt, dass diese ihn, Carrera, betrüge, dass ein Kind unterwegs sei und möglicherweise auch Lebensgefahr für ihn, Carrera, drohe. In einem Ton, der voll verzweifeltem, aber dennoch fröhlichem Überschwang steckt, erzählt Veronesi dann die Lebens- und Leidensgeschichte dieses Mannes, die reich ist an Verlust, Trennung, Tod, aber auch an Begehren und Liebe, unerfüllt freilich Letzteres, gilt sie doch einer Jugendliebe. Die Briefe zwischen den beiden ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch, auch dieser verworren in seiner zärtlichen, aber aussichtslosen Leidenschaft.

Sandro Veronesi ist in seiner Heimat ein Literatur-Superstar, der gerne mit Prominenten über Bücher plaudert, zum Beispiel mit Barack Obama. Wie bereits sein Roman „Stilles Chaos“, wurde auch „Der Kolibri“ mit dem renommierten „Premio Strega“ ausgezeichnet. Der Romantitel rührt übrigens daher, dass Marco Carrera als Kind so zart, klein und feingliedrig wie besagter Vogel war. Und in einem Brief schreibt die Jugendliebe an den fernen Geliebten: „Du bist ein Kolibri, weil du deine ganze Energie darauf verwendest, auf der Stelle zu bleiben.“

Der Schriftsteller Sandro Veronesi hingegen verwendet seine Energie darauf, genau das nicht zu tun. Dieses schwer fassbare und unfassbar grandios geschriebene Buch, das zwischen Überdruss und Überfluss pendelt, zwischen filigranen Flügelschlägen und deftigen Trommelwirbeln, dieses Wunder von einem Buch ist immer in Bewegung, ohne dass dem Autor jemals der Schweiß auf der Stirn steht. Lesen Sie bitte!

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Buchtipp: Sandro Veronesi. Der Kolibri. Zsolnay, 346 Seiten, 25,90 Euro.