Wohl niemand möchte diese Frage je hören, doch Jakob Thurner – Hauptfigur in Norbert Gstreins neuem Roman – bekommt sie gestellt, von seiner 20-jährigen Tochter Luzie: „Was ist das Schlimmste, das du je gemacht hast, Papa?“ Aus dieser Frage und der Antwort darauf entspinnt Gstrein ein Vexierspiel auf höchstem literarischen Niveau.

Ausgangspunkt ist der 60. Geburtstag des mittelgradig erfolgreichen Schauspielers Jakob Thurner und der Versuch eines Biografen, dessen Leben dingfest zu machen. Thurner entzieht sich, nicht nur dem Biografen. „Wie dringlich die anderen leben, wie passiv er“, heißt es an einer Stelle dieses Romans, der in seiner Paarung aus erzählerischem Glanz und geistiger Schärfe durchaus an US-Giganten wie Philip Roth oder Richard Ford heranreicht.

Um die Frage der Tochter zu beantworten, muss Jakob Thurner sowohl geografisch als auch im Erinnern an die mexikanisch-amerikanische Grenze zurückreisen, wo er vor langer Zeit im Zuge von Dreharbeiten Schuld auf sich geladen hat. Eine Schuld, die er selbst – wenngleich taumelnd – schultert, an deren Last aber die Tochter – ohnehin psychisch lädiert – zusammenbricht.

Gstrein ist ein Meister der Zwischenräume, ein Destrukteur von Eindeutigkeiten, der in seinen Büchern simple Urteile stets verweigert hat. Und auch diesmal schuf er eine Erzählfigur, die nicht allwissend durch das Geschehen führt, sondern selbst erst im Laufe der Geschichte deren Hinter- und Abgründe erahnt. Ob aus dem Fallen tatsächlich neue Kraft geschöpft wird, wie es an einer Stelle heißt, sei hier offengelassen.

Norbert Gstrein betreibt mit seinem „zweiten Jakob“ auch ein raffiniertes, verblüffendes Verwirrspiel zwischen Fakten und Fiktion. „Jetzt kommen sie und holen Jakob.“ Mit diesem Satz beginnt seine erste Erzählung „Einer“ aus dem Jahr 1988. Dieser (erste) Jakob ist jedoch nicht nur eine literarische Figur, sondern eine reale Person der Gstrein-Familie. Norbert Gstrein selbst wurde in seiner Kindheit „der zweite Jakob“ genannt, weil er die Füße nicht im Leben, sondern die Nase in der Luft und in den Büchern hatte.

Mit der Figur des Jakob Thurner schließt sich ein Kreis. Oder doch nicht? Denn vieles deutet darauf hin, dass dessen Tochter die Anlagen für einen dritten Jakob in sich trägt. Und, viertens: Dieses Buch beinhaltet alle Zutaten großer Literatur.

Buchtipp: Norbert Gstrein. Der zweite Jakob.
Hanser, 448 Seiten, 25,70 Euro.

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