Bis fast zuletzt hatten die Wiener Philharmoniker gehofft, das erschreckende Symbolbild für die Auswirkungen der Pandemie auf unser Leben nicht in die Welt senden zu müssen: gähnende Leere im Saal, Blumenschmuck ausschließlich für die Fernsehzuschauer, kein Applaus, nur Musik.  

Aber was heißt nur Musik? Vielleicht stand sie noch nie so ausschließlich im Mittelpunkt dieses überbuchtesten Vormittagskonzerts der Welt. Wie in einer idealen Aufnahmesituation lenkte die Musikerinnen und Musiker nichts von ihrer Kunst ab. Sie dankten die ungewohnte Fokussierung auf die Noten mit konzentriertem Ernst, der die Nähe der angeblich leichten Unterhaltungsmusik des 19. Jahrhunderts zum Hauptstrom der klassischen Musik der Epoche deutlich machte.

Und der Applaus? In der Not erfand der Grazer Sounddesigner Markus Platzer eine Lösung: 7000 Menschen klatschten vor der Pause und am Ende des Konzerts vor ihren Handys, eine komplexe Schaltung transferierte ihre Begeisterung in den Saal. Die Musiker freuten sich über den kargen Ersatz des gewohnten Echos. Auf den TV-Schirmen sah man bewegte Fotos, die Applaudierende aus aller Welt eingesandt haben. Ein bewegender Moment weltweiter Solidarität, vermittelt durch die Musik, die Technik und das Fernsehen.

Das Orchester und Riccardo Muti sprachen ihre ungewöhnliche Lage direkt an. Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer erhob sich vor dem zweiten Teil des Konzerts und formulierte deutsch und englisch, was viele fühlten: das Orchester wolle „ein Signal der Hoffnung und des Optimismus“ in die Welt senden. Anstelle der kurzen Neujahrswünsche, die Dirigenten traditionell vor den Zugaben  dem Publikum zurufen, hielt Riccardo Muti eine regelrechte Rede.

Musik, so sagte er, verfolge eine Mission zur Verbesserung der Gesellschaft. Natürlich sei körperliche Gesundheit von überragender Bedeutung, aber auch die Gesundheit des Geistes. An die Politiker der Welt, von denen UNO-Generalsekretär António Guterrez in die Schar der Applaudierenden einreihte, solle bedenken, dass Musik besonders wichtig sei für den Aufbau einer besseren Gesellschaft. Das „Prosit-Neujahr“ des ganzen Orchesters hallte gespenstisch nach im  leeren, blumengeschmückten Saal.

Muti, der zum sechsten Mal dieses besondere Konzert leitete, ging mit einer entspannten Lockerheit ans Werk, die in regelrechten Konzertsituationen schwer zu erreichen ist. Immer wieder ließ er die Arme hängen und überließ den Gang des Geschehens dem Orchester. Die Souveränität des 79jährigen, der vor fünfzig Jahren zum ersten Mal vor den Philharmonikern gestanden war, übersetzten die Freigelassenen in lockere Spiellust. Gelegentlich setzte Muti dramatische Akzente, die deutlich machten, was er in seiner Rede über diese Musik gesagt hatte: „voller Freude und Traurigkeit, voll Leben und Tod“ seien die Klänge der Strauß-Dynastie und ihrer Zeitgenossen. Wie tief er sie zu empfinden vermag, ließ er uns zu diesem Jahresauftakt wieder einmal erleben. „Grazie“ sagte er zum Schluss. „Grazie“ sagen wir.