Sie nehmen am „Future Library“-Projekt in Oslo teil. Texte von 100 Schriftstellern aus der ganzen Welt werden gesammelt, verschlossen und erst im Jahr 2114 veröffentlicht. Ist das ein Triumph über den Tod? Die Literaten werden längst tot sein, aber ihre Worte überleben.
OCEAN VUONG:
Ich würde es nicht als Triumph bezeichnen, eher als Zusammenarbeit mit dem Tod. Die Künstler müssen sterben, damit ihre Kunst ankommt. Diese Idee hat mich als Buddhist interessiert. Schriftsteller sind oft sehr egozentrische Menschen. Aber den Geist seines Ichs ohne das leibhaftige Ich in die Zukunft zu senden, das ist für mich eine faszinierende Meditation über den Tod.

Tausende Bücher werden Jahr für Jahr publiziert. Warum, glauben Sie, hat gerade Ihr Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ sowohl bei Kritikern als auch Lesern einen so hymnischen Anklang gefunden? Welchen „Knopf“ haben Sie gedrückt – wenn es denn einen Knopf gibt?
VUONG:
Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht! Meine größte Hoffnung war, eine Wort-Architektur für das Denken und die Gefühle, die mich verfolgen, zu finden. Dieses Bauwerk aus Buchstaben hätte die Menschen unberührt lassen können, auch das passiert. Ich bin noch immer maßlos erstaunt darüber, dass dieses Buch die Menschen in einem so großen Ausmaß erreicht und berührt hat. Als ich das Buch veröffentlichen wollte, haben viele Verleger gesagt: Da ist zu wenig Story drinnen, der Höhepunkt fehlt. Wir brauchen einen Plot, wir brauchen eine Auflösung. Aber ich wollte diese alten Regeln nicht befolgen. Eine italienische Kollegin von Ihnen hat mir einmal eine mögliche Erklärung dafür geliefert, warum mein Buch gerade in Europa solchen Anklang findet, nämlich weil es sich so europäisch anfühle. Darüber habe ich viel nachgedacht. Und ich glaube, sie könnte recht haben. Viele meiner Vorbilder sind deutschsprachige Literaten. Ich liebe das Werk von Franz Kafka, ich schätze Rainer Maria Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ über alles. Auch W.G. Sebald und dessen essayistischer Zugang haben mich sehr beeindruckt und beeinflusst. Durch diese Autoren fand ich den Mut, selbst zu schreiben.

Das heißt, europäische Autoren haben mehr Spuren in Ihnen und in Ihrer Arbeit hinterlassen als US-Autoren?
VUONG:
Ja, ganz sicher. Thomas Bernhard fällt mir noch ein, ein völlig kompromissloser Schriftsteller mit einem unverwechselbaren Klang. Im US-amerikanischen Buchgeschäft ging und geht es fast ausschließlich darum, möglichst viele Bücher zu verkaufen und damit möglichst viel Geld damit zu verdienen. In Europa hingegen hatten Dichter schon immer mehr Freiheit, in ihrer Arbeit und mit ihren Stilmitteln zu experimentieren.

Sie haben auch „Moby Dick“ von Herman Melville als Vorbild genannt.
VUONG:
Melville hat zu nichts Nein gesagt, der hat jede Stilform in "Moby Dick" einfließen lassen. Sein Buch ist Literatur, Philosophie, Naturbetrachtung. Er hat zum Beispiel 50 Seiten nur über Zeichnungen von Walen geschrieben.

Melville hat zu Lebzeiten allerdings sehr wenige Bücher verkauft – im Gegensatz zu Ihnen.
VUONG:
Ja, ich weiß, das ist absurd. Ich habe oft literarische Vorbilder, die kommerziell nicht erfolgreich waren, und habe selbst mit meinen Büchern so großen Erfolg.

Zurück zu Ihrem Roman, im Original „On Earth We’re Briefly Gorgeous“: Es steckt so viel von Ihnen, von Ocean Vuong, in Little Dog, der Hauptfigur des Buches. Aber Sie haben keine Autobiografie geschrieben, keine Memoiren, vielmehr haben Sie Ihr Leben zu Literatur transformiert.
VUONG:
Ja, so ist es. Und ich danke Ihnen dafür, dass Sie meinen Roman nicht als Autobiografie missverstanden haben. Denn ich hätte nie eine Autobiografie schreiben können. Ich habe einen Roman geschrieben, hauptsächlich deshalb, weil ich ein Feigling bin. Ich hätte nie den Mut gehabt, meine Familie – meine Mutter, meine Großmutter, meinen Vater – mit harten Fragen zu konfrontieren. Der Roman ist eine Art Simulation. Wenn ich hingegangen wäre und meine Familienmitglieder nach ihrem Leben, nach ihrer Vergangenheit und ihren Verletzungen befragt hätte, wäre ich binnen Sekunden in Tränen ausgebrochen. Ich bin ein emotional sehr zerbrechlicher Mensch. Also habe ich meine Fragen gestellt und Menschen geschaffen, die sie beantworten – zumindest teilweise. Ich habe also ein Paralleluniversum erfunden.

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Der Roman: "Auf Erden sind wir kurz grandios".
Hanser. 240 Seiten, 22,70 Euro.


War die Figur des Little Dog ein Schutzschild?
VUONG:
Ich würde sagen, er war ein Doppelgänger. Ich konnte ihn aus sicherem Abstand beobachten und sehen, was er tut. Little Dog ist ein viel tapferer und besserer Mensch, als ich es bin.

Ist er Ihr Stuntman?
VUONG:
Ja! Das ist gut. Ich überlasse die gefährlichen Szenen ihm.

Ihr Roman behandelt eine Vielzahl von Themen: Es geht um die Vergangenheit in Vietnam, um Kriegstraumata, um das Erwachsenwerden in den USA nach 9/11, um Zuneigung, Hass und Gewalt in der Familie und um homosexuelle Liebe und Sex. Ihr Ton ist zärtlich und roh zugleich. War das Schreiben auch ein Heilungsprozess?
VUONG:
Eine große Frage. Ich weiß nicht, ob Schreiben, ob Kunst heilen kann. Auf jeden Fall kann das Schreiben den Raum dafür schaffen, dass Heilung möglich ist. Wenn man einen Roman schreibt, schafft man damit gleichsam einen Platz, eine Piazza. Dort treffen sich Menschen und sprechen über das, was sie gelesen haben. Diese Kommunikation, auch wenn sie nicht direkt stattfindet, kann etwas Therapeutisches in sich tragen.

Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang einen Satz von Fernando Pessoa aus dem „Buch der Unruhe“ vorlesen. Pessoa schreibt: „Ich glaube, eine Sache in Worte fassen heißt, ihr die Kraft bewahren und den Schrecken nehmen.“ Können Sie mit diesem Satz etwas anfangen?
VUONG: Oh ja! Was für ein existenziell richtiger Satz. Pessoa beschreibt hier den Kern von Literatur. Dieser wahrhaftige Satz ist gültig vom Gilgamesch-Epos über Homer bis Dante. Literatur greift den Horror auf, macht aber daraus etwas, das man überwinden kann. Und diese Überwindung erfolgt durch die Kraft und die Schönheit von Sprache.

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Die Gedichte: "Nachthimmel mit Austrittswunden".
Hanser. 169 Seiten, 19,60 Euro.

Sie haben ja wiederholt gesagt, dass Ihre Bücher in Wahrheit Sprache zum Hauptinhalt haben.
VUONG:
Absolut. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass Sprache die Hauptfigur meines Romans ist. Ich wollte nicht nur einen Bildungsroman schreiben, sondern auch einen Künstlerroman. Für mich war es außerdem sehr wichtig, in diesem ersten Roman meine Sicht der Welt und mein Empfinden von Ästhetik zum Ausdruck zu bringen. Ich wollte sehen, was passiert, wenn ich allein mit dem Mittel der Sprache die Brutalität und die Schönheit der Welt beschreibe. Wird Sprache das schaffen? Wird sie es schaffen, all das, was ich in mir trage, nach außen zu projizieren? Ich weiß nicht, ob mich die Antwort auf all diese Fragen, die jetzt als Buch vorliegt, zufriedenstellt. Aber ich weiß, dass Sprache etwas Mächtiges, Essenzielles ist. Deshalb ist das Erzählen von Geschichten so wichtig.

„Sprache ist ein Geschenk und sie ist Schmerz“, lautet ein Zitat von Ihnen.
VUONG:
Mein Roman ist auch ein Dokument über die Verwendung, den Einsatz von Sprache. Und es geht mir dabei nicht in erster Linie um das Gute oder das Böse. Es geht mir vielmehr um die Sorgsamkeit im Umgang mit Sprache. Ich glaube, in der Mitte seines Herzens trägt mein Roman den Spirit des Essays.

Ein Essay ist ein Versuch. Was an Ihrem Versuch ist gelungen – und wo sind Sie gescheitert?
VUONG:
Mein Roman ist in Textvignetten geschrieben, in Charakterskizzen. Eigentlich ist es mehr Lyrik als Prosa. Es gibt natürliche Pausen, ähnlich der Stanze in einem Gedicht. Und „stanza“ kommt aus dem Italienischen und bedeutet „Raum“ im Sinne von „den Gedanken Raum geben“. Das war auch mir ein Anliegen. Ich wollte dem Leser Raum geben und Luft zum Atmen. Ich wollte auch nicht alle Brücken für ihn bauen. Ich nehme den Leser nicht an der Hand und führe ihn.

Und wo sind Sie gescheitert?
VUONG:
Durch diese Art des Schreibens habe ich die Figuren vielleicht nicht so gründlich gezeichnet, wie sie es verdient hätten. Ich fürchte, die Menschen in meinem Roman haben viel mehr Leben in sich, als ich ihnen gegeben habe. Aber auch das hat Vorteile: Der Leser kann die möglichen Leerstellen füllen, er muss aktiv sein. Der Schreiber und sein Leser tragen eine Geschichte, ein Gedicht gemeinsam.

Ihr Roman ist der Brief eines Sohnes an seine vietnamesische Mutter, den diese nie lesen wird, weil sie der (englischen) Sprache nicht bzw. zu wenig mächtig ist. Wie sehr hat Sie Franz Kafkas „Brief an den Vater“, den er nie abgeschickt hat, beeinflusst?
VUONG:
Die zwei Bücher, die meinen eigenen Roman am meisten beeinflusst haben, waren Kafkas Vater-Brief und Marilynne Robinsons „Gilead“. In diesem Buch schreibt ein Vater, ein Priester, auf seinem Sterbebett einen Brief an seinen siebenjährigen Sohn. Als ich auf Kafkas Brief gestoßen bin, war ich sehr jung, 22 Jahre alt. Ich hatte zuerst keine Ahnung, dass es sich um einen Brief handelt, um ein literaturhistorisches Dokument. Das war mein erster Kafka-Text, den ich je gelesen habe, und er war eine Offenbarung für mich. Ich war erschüttert und dachte mir: Wow, was für kraftvolle Worte voll Dringlichkeit. Kafka hat die Briefform gewählt, um bis auf den Knochen reinzuschneiden! Nur seine Stimme, adressiert an eine andere Person. Das ist die grundlegendste, archaischste Form der Kommunikation, die wir Menschen haben. Und da wusste ich, so will ich auch schreiben. Aber es hat fast zehn Jahre gedauert, dass ich es dann auch tatsächlich getan habe.

Ihre Gedichte aus dem Band „Nachthimmel mit Austrittswunden“ erinnern mich teilweise an Walt Whitmans ikonischen Gedichtband „Leaves of Grass“. In seinem „Song of Myself“ kommt die Zeile „I contain multitudes“ vor. Welche „multitudes“, welche Vielfalten, enthalten Sie?
VUONG: Es ist heutzutage sehr populär, Schriftsteller wie mich mit den Worten „queer“, „Asian“, „person of color“ zu etikettieren – und das stimmt ja auch alles. Aber wenn ich an meine Vielheiten denke, hoffe ich, dass es mehr gibt als die genannten. Ja, ich bin ein asiatisch-amerikanischer Schriftsteller, aber auch ein Hundefreund, ein Sohn, ein Bruder, ein neugieriger Mensch. Ich möchte mich nicht mit den Identitäten, die mir vom Literaturbetrieb zugeschrieben werden, begnügen. Meine Literatur ist mein künstlerischer Fingerabdruck. Nur wir Menschen sind fähig, diesen Fingerabdruck zu hinterlassen. Und wenn ich Thomas Bernhard lese, lese ich seinen Fingerabdruck. Etwas Einzigartiges; etwas, das nur sein Geist schaffen konnte. Zu mir gehören auch meine Widersprüche; Widersprüche, die ich feiere. Sie machen das Leben aus und mein Schreiben. Das sind meine Vielheiten!