Der explodierende Tourismus gehört zu den wesentlichen Kennzeichen einer spätmodernen Welt. Im gegenwärtigen Ausnahmezustand kann davon freilich keine Rede sein. Zeitenwende: Covid-19 hat das ungehinderte Reisen abgewürgt. Man könnte allerdings auch behaupten: Der Tourismus war schon vor Corona im Zustand der Selbstvernichtung. Das Virus könnte diesen Prozess verlangsamen.

Damit sind ein kollektives und ein individuelles Problem gemeint. Das individuelle Problem betrifft den „rasenden Urlauber“: noch mehr Städte in wenigen Tagen, Kurztrip nach Istanbul, eine Woche nach Hurghada, vier Tage zum Osterfest nach Moskau. Skifahren reicht nicht, es müssen auch Einkehren, Disco, Event, Spitzengastro, Therme sein. Erholen kann man sich nach der Heimkehr. Zukunftsvorhaben: irgendwann zur Chinesischen Mauer. Dschungel. Rom wartet – da muss man sich doch diese Kapelle anschauen, diese Dings, ziemlich alt, du weißt schon, von Leonardo da Vinci oder so. Auf einen Tag in das Arsenal und die Giardini.

Das kollektive Problem ist der steigende Reichtum der Welt und die daraus folgenden Touristenmassen: Sie werden sich verfünffachen. Die großen Sights sind längst überfordert. Venedig wollte schon zusperren. Für die Getreidegasse in Salzburg hat man es überlegt. Mallorca will sich neu erfinden. In die großen Museen kommt man nur noch mit elektronisch gebuchtem Zeitfenster, bald gilt die Methode vielleicht auch für ganze Städte wie Florenz und Hallstatt. Schönheit im Prozess der Vernichtung. Einheimische stöhnen, aber leben davon. In Wahrheit sind es keine Städte mehr, keine Museen, keine Natur – alles wird zu Disneyland mit Massendurchschleusung. Ohnehin eine Frage des touristischen Mythos: Warum wollen Menschen um die halbe Welt fliegen, um all-inclusive an einem Pool zu liegen, der so aussieht wie der Pool zu Hause? Warum wollen Menschen, die Romanik und Barock nicht unterscheiden können, den David im Original sehen?

Im Moment ist aber alles anders. Erstens: touristische Entglobalisierung, Regionalisierung, Entmobilisierung, Entschleunigung. Grenzziehung statt Unbegrenztheit. Die herzensweitende Globalität wird zur unsichtbaren Bedrohung, der offene Horizont zur gefährdenden Verlorenheit. Flugzeug: irgendwie gefährlich. Südliche Länder: Irgendwie unsicher, man kommt am Ende vielleicht nicht mehr zurück über die Grenze. Alle Spielregeln sind jetzt unüberschaubar und im Fließen. Da verschiebt man die fernräumlichen Vorhaben doch lieber. Auch wenn man in der Lockerungsphase der Pandemie zeitweise den Eindruck hatte, die einzige Sorge vieler Menschen inmitten der Katastrophe sei der menschenrechtsnotwendige Zugang zu den mediterranen Gefilden, so haben doch die meisten spontanes Heimatgefühl entwickelt. Oder sie arbeiten daran. Und fahren nach St. Wolfgang. Autsch!

Zweitens: In Heimat und Natur entdecken die wohlbetuchten und die mittelschichtigen, die quasiintellektuellen und die künstlerischen Kosmopoliten, dass da draußen sensationelles Vogelgezwitscher herrscht; und sie wandern auf die Alm, statt nach Korsika zu fliegen. Der Kulturglobalist wäre mobiler Unheilbringer, wenn er nicht unter gegebenen Umständen seine emotionell-transzendenten Gefühle sich im Angesicht der heimischen Kuh entfalten ließe. Ein intensives Wettbasteln am neuen Narrativ findet statt. Es muss nicht Machu Picchu sein, der Wörther- und der Ausseersee sind auch Weltwunder, jedenfalls trifft man dort auch alle, die man eigentlich nicht treffen will. Mythische Aufpäppelung des Nahraums.

Drittens: Eine moralisch-tiefenpsychologische Komponente kommt hinzu: der Verzicht auf die ferne Urlaubsreise als Wende zum kleinräumigen Entdeckungsverfahren und als menschenfreundliche Unterlassungshandlung. Das ökologisch-konsumkritische Pflichtbewusstsein, welches ja auch schon (besonders an Freitagen) in der Luft gelegen ist, wird nun als Selbst- und Naherkundungschance konzipiert. Als Freiheit, sich den kanalisierten Massen zu entziehen. Das birgt tiefe romantische Potenziale: die Rückkehr der Sommerfrische, Urlauben wie damals, Duft der Kindheit, Wiedergewinnung des Lebensgefühls in Ferienwohnung, Privatpension, am Campingplatz. Ein Zeitsprung: ein halbes Jahrhundert zurück – retro und doch gleichzeitig Lebensstil-Avantgarde.

Viertens: Man verspürt einen Hauch der Freiheit, aus dem Normalbetrieb hinausgefallen zu sein – aber genau das hat man eigentlich immer als Urlaub verstanden. Unter diesem Gesichtspunkt ist die rasche Wiedergewinnung von „Normalität“ gar nicht wünschenswert. Aber wir brauchen die Normalität des Kaufens; deshalb wurde die Erfahrung, dass man vieles nicht braucht, von Wirtschaftstreibenden als die größte Gefahr der Pandemie angesehen. Aber ein Hauch bleibt vielleicht spürbar: oktroyierte Bremsung als ein zeitlich begrenztes Konsumsuchttherapieprogramm; ein sanftes Aufdämmern der Schönheit einer persönlichen Bedürfnisreduzierung. Die Reduzierung lässt sich durch Online-Shops ohnehin reduzieren.

Fünftens: Trotz aller romantischen Mythisierung bleibt ein Unbehagen. Schließlich muss man mit dem Virus leben, auch im Urlaub. Die Jammerei, dass die Menschen von Ängsten gebeutelt werden, war immer eine Übertreibung. Eine Minderheit drängt es danach, möglichst rasch wieder ins Exzessive zu taumeln: „Problem-Youngsters“. Doch die meisten Menschen haben die Situation mit Bedauern erlebt, aber mit gesundem Hausverstand hingenommen, und das tun sie auch im Urlaub. Natürlich ist alles lästig, mit der Maske und der Desinfektion. Wenn es aber keine größeren Unbequemlichkeiten sein sollten als diese Kinkerlitzchen, dann leben wir immer noch unter glücklichsten Umständen. Da ist noch viel Platz, die berühmte Seele baumeln zu lassen, und wenn wir sie jenseits des nachgeplapperten Marketingsagers gar (religiös, moralisch, humanistisch, psychologisch) entdecken sollten, wäre das unter den Kollateralnutzen des Virus zu verzeichnen.

© Christian Jungwirth