Als am 22. Jänner in der chinesischen Millionenstadt Wuhan erste Gerüchte über eine völlige Abriegelung der Metropole die Runde machten, war die Konsequenz weitaus mehr als ein Ausnahmezustand in der Bevölkerung. Der blankeHorror brach los, ergänzt durch Panik, Chaos und grenzenloser Wut über die wochenlangen Vertuschungen, Verharmlosungen und Heucheleien der Provinzregierung von Hubei. Längst schon starben etliche Menschen an Corona, die Zahl der Infektionen stieg explosionsartig, gesunde Stadtbewohner flüchteten in die nächstgelegenen Spitäler. Sie baten um Hilfe und Aufnahme – und sorgten für eine zusätzliche, verheerende Ausbreitung von Covid-19.

Der Name Wuhan steht für immer ein für den Beginn einer weltweiten Katastrophe, einer Pandemie in nie für möglich gehaltenem Ausmaß. Übrigens: Die WHO ließ "Experten" tagelang nachdenken, wie denn das Virus zu benennen sei. Vom Vorhaben, dafür den Namen Wuhan-Virus zu wählen, wurde nach mehreren offenkundig wichtigen Debatten wieder Abstand genommen.

Die chinesische LiteratinFang Fang beschloss unterdessen, ein Online-Tagebuch zu führen, um „die Welt da draußen“ nicht nur zu informieren, sondern auch zu warnen vor weiterer, folgenschwerer Unterschätzung der heimtückischen Lungenerkrankung. Mehrmals wurden ihre Tagesbefunde, die auch für die Stadtbewohner zu einer der wichtigstenInformationsquellen wurden, von den Behörden zensuriert oder gelöscht, mehrmals wechselte sie die Online-Plattform, wüsten Beschimpfungen und übelsten Drohungen mächtiger Gegner ausgesetzt. Sie schrieb weiter, angstfrei, sie informierte sich bei Ärzten über das wahre Ausmaß der Epidemie, die in Wuhan wütete.

"Keine Ansteckungsgefahr"

Und sie entlarvte schier unfassbare Scheinheiligkeiten, Lügen und unglaubliche Beschwichtigungsversuche. Die Regierung schickte ein sogenanntes Expertenteam nach Wuhan, deren Schlussfolgerung all die Empörung über die ersten Tage der Hilflosigkeit noch enorm steigerte. Eine Ansteckung von Mensch zu Mensch sei auszuschließen, eine „Eindämmung und Kontrolle“ würde „keinerlei Problem“ darstellen. Eine im wahrsten Sinn des Wortes grauenhafte und tödliche Form der Menschenverachtung und ein weiterer skandalöser Versuch der Bagatellisierung, emsig unterstützt von den Medien.

"Himmelschreiendes Verbrechen"

Obwohl im Internet längst Videos und Fotos kursierten, obwohl die Leichen in Lastkraftwagen abtransportiert wurden, obwohl schon viele Wochen zuvor von einigen Ärzten Großalarm gegeben wurde und verzweifelte SOS-Rufe ertönten.

Von einem „himmelschreienden Verbrechen“ schreibt Fang Fang in einer Tagebuch-Eintragung, datiert mit 30. Jänner dieses Jahres. Wobei an dieser Stelle eingefügt werden muss, dass auch das Robert-Koch-Institut, Maß aller Viren-Erkrankungen in Deutschland, das Risiko einer Pandemie als „gering bis mäßig“ einstufte – am 28. Februar. Als es auch schon die ersten Todesfälle in Europa gab.

So ist denn auch das Wuhan Diary – Tagebuch aus einer gesperrtenStadt“, das vor einigen Tagen in englischsprachiger Übersetzung erschienen ist, sofort für enormes Aufsehen sorgte und nun auch in deutschsprachiger Version vorliegt, nicht nur ein entsetzlicher, authentischer Beleg für menschliches Versagen, es ist auch ein Appell, der sich an die gesamte Menschheit richtet. Von einer Journalistin am Höhepunkt der Corona-Welle in Wuhan befragt, welche Lehren China aus der Epidemie ziehen solle und müsse, antwortete die Literatin so: „Corona erteilt nicht nur China, sondern der ganzen Welt eine Lektion. Und die lautet: Ihr Menschen, seid weniger arrogant, nehmt euch weniger wichtig, glaubt nicht, dass ihr unbesiegbar sei, unterschätzt nicht die Zerstörungsgewalt auch winziger Dinge wie die eines Virus.“ Die Beachtung dieser dringlichen Warnung hielt sich, wie man mittlerweile weiß, zuerst einmal in ziemlichen Grenzen.

Trügerische Hoffnung

Und noch ein wichtiger Satz von Fang Fang: „Die Politiker auf beiden Seiten, gleichgültig ob im Osten oder Westen, weisen sich gegenseitig die Schuld zu, ohne an die eigenen Versäumnisse zu denken. Dadurch wurde der gesamten menschlichen Gesellschaft ein schwerer Schlag versetzt. Nur wenn die Menschheit zusammensteht, kann sie das Virus besiegen.“

Aber zurück zu den Tagebüchern, die auch immer wieder durch das Prinzip Hoffnung geprägt sind. Ein fataler Irrtum. Nach 14 Tagen sei der Kampf gegen das Virus beendet, hieß es in den Anfangstagen der rigorosen Ausgangssperren. Letztlich wurden 76 Tage in Quarantäne daraus, ehe zahllose Bewohner Wuhans auf die Straßen liefen und vor Freude weinten. Fang Fang teilt die Euphorie, bleibt aber skeptisch: „Es ist kein Sieg, es ist das Ende.“

Ihre Tagebücher sind weitaus mehr als permanente Zustandsschilderungen, sie sind auch reich an zutiefst berührendenMomenten. Als am 6. Februar der Mediziner Li Wenliang starb, schalteten fast alle Bewohner am Abend daheim das Licht aus und richteten Taschenlampen oder Smartphones himmelwärts. Ein Lichtstrahl am düsteren Nachthimmel, von Fang Fang so kommentiert: „Das Tränenmeer der Menschen hat Li Wenliang heute Nacht in eine andere Welt getragen.“

Polit-Gesänge im Spital

Zur Erinnerung: Der Arzt, der an Corona starb und dessen Befürchtungen rasch im Internet kursierten, wurde am 3. Jänner von der Polizei verwarnt und er musste sich verpflichten, „keine Gerüchte mehr zu verbreiten.“

Nun muss die Literatin selbst um ihre Freiheit bangen. Sie gilt, noch nicht offiziell, als Hochverräterin und CIA-Agentin. Wohl auch, weil sie den Rücktritt etlicher Politiker fordert und in ihren Tagbüchern gespenstische Szenerien beschreibt. Dazu ein Eintrag vom 12. Februar, Fang Fang schildert die Inspektion eines Behelfsspitals durch eine offenkundig „hochgestellte Persönlichkeit“: „Eine Gruppe von einigen zig Personen, darunter Beamte, medizinisches Personal und vermutlich auch Patienten, steht vor in ihren Betten liegenden Kranken und singt lauthals: ,Ohne Kommunistische Partei gibt es kein Neues China‘. Denkt irgendjemand an die Gefühle der auf ihren Betten liegenden Kranken, die sich infiziert haben? Die unter Atembeschwerden leiden?“

Der bereits erhobene Vorwurf, Fang Fang wolle sich mit diesem Buch, das ein enorm bedeutsames Zeitzeugnis ist, "schamlos bereichern", geht völlig ins Leere. Die Honorare werden ausschließlich zu Spendenzwecken verwendet. Zum Abschluss, auch als Lektion, noch ein Satz von Fang Fang: „Landet das Staubkorn einer Epoche auf dem Kopf eines Einzelnen, wird es zum Berg …“ Denn, so ihre Erkenntnis zuCorona: „Der Dämon ist stets auf der Lauer“.

Buchempfehlung:

Fang Fang. Wuhan Diary – Tagebuch aus einer gesperrten Stadt. Hoffmann und Campe. 350 Seiten, 25,90 Euro.