Der Rucksack, den er trägt, ist, harmlos ausgedrückt, recht schwer und dabei hat er nicht einmal die Fotoausrüstung dabei. So viel steht fest: Wenn es hart auf hart kommt, dann geht Thomas Windisch ziemlich sicher nicht verloren. Vielleicht wäre ihm das sogar recht, denn das Verlorene, das Aus-der-Zeit-Gefallene, das ist ganz sein Habitat. Der gebürtige Steirer gilt als einer der Meister einer Zunft, die zwar selbst noch gar nicht alt ist, aber das Alte ins Zentrum ihres Tuns rückt: Windisch fotografiert verlassene Orte. „Lost Places“, also verlorene Orte, ist die gängige Bezeichnung für dieses Genre innerhalb der Fotografie.
Nicht zuletzt durch soziale Medien hat die Suche und Abbildung dieser Orte eine geradezu unglaubliche Dynamik bekommen. Wer sie auf Instagram sucht, wird Millionen davon finden. In unserer bildverliebten Welt sind sie ein Paradoxon: Sie schillern nicht, sie protzen nicht und doch wohnt vielen dieser Orte eine ganz eigene Schönheit inne. Sie sind Chronisten eines Prozesses, der dieser nach Lebendigkeit gierenden Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Was sie darin sieht? Den Verfall.

Fotograf Thomas Windisch
Fotograf Thomas Windisch © Juergen Fuchs/Kleine Zeitung

Über 60.000 Bilder hat Windisch bislang geschossen, 130 haben nun im Bildband „Wer hat hier gelebt?“ Eingang gefunden. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho und der Autor Ilija Trojanow haben sich kulturwissenschaftlich und literarisch auf die Reise an diese Orte begeben. Eines zeigt sich: Auch dem Verfall mangelt es nicht an Vielfalt – von der Schwefelmine auf Sizilien über den Schrottplatz in Österreich, ein ehemaliges Gefängnis in Frankreich, ein Kraftwerk in Ungarn, eine Destillieranlage in Italien, halb verfallene Villen bis zu leeren Hotels und natürlich Tschernobyl.

Detail in einem Kindergarten in Prypjat
Detail in einem Kindergarten in Prypjat © Thomas Windisch/Brandstätter Verlag

Die Bilder rufen die gesamte Gefühlspalette beim Betrachter hervor: von schaurig bis schön, von schockierend bis unglaublich. Spätestens beim dritten Bild dämmert es einem: Damit, hinzufahren und den Auslöser zu drücken, ist es hier nicht getan: „Es gibt ganz atmosphärische Orte, da spaziert man stundenlang durch die Gänge. Das sind Momente, die genießt du einfach für dich. Am Ende kommst du drauf, dass du kein einziges Foto gemacht hast“, so Windisch. Der richtige Moment, das ist auch für ihn die knallharte Währung, der man alles unterordnet: lange Anreisen, unwirtliche Gegenden, oft stundenlanges Warten auf das richtige Licht.

Doch an manchen Orten kann das alles passen und es passt doch nicht: „Es gibt Bilder, die werden dem Raum einfach nicht gerecht.“ Wie ein bestimmter Raum in einer ehemaligen psychiatrischen Anstalt in Italien. „Das ist für mich so ein unmöglicher Ort: Mit einem ganz bestimmten Lichteinfall, von oben wächst der Farn hinein. Ich war schon vier Mal dort, habe bis jetzt zwei Fotos gemacht und mit keinem bin ich zufrieden.“

Eine ehemalige psychiatrische Anstalt in Italien
Eine ehemalige psychiatrische Anstalt in Italien © Thomas Windisch/Brandstätter Verlag

Warum soll es dem Fotografen anders gehen als den meisten Menschen? Das Gefühl eines Moments, er lässt sich nicht auf Bild bannen. Die unbequeme Antwort auf den Zwang unserer Zeit, alles festhalten zu wollen. Mit diesem Wunsch haben professionelle „Lost Places“-Fotografen oft ihre liebe Not. Zuletzt geriet vor allem Tschernobyl in die Schlagzeilen: „Mittlerweile karren sie 30 bis 40 Busladungen täglich rein. Die latschen dann einmal quer über den Hauptplatz drüber, machen dann Selfies und Fotos und steigen wieder in den Bus.“ Windisch selbst verbrachte drei Wochen vor Ort.

Rund zwei Wochen Vorbereitung: Illegale Deponie in einer ehemaligen Mine in Großbritannien
Rund zwei Wochen Vorbereitung: Illegale Deponie in einer ehemaligen Mine in Großbritannien © Thomas Windisch/Brandstätter Verlag



Doch wie finden „Lost Places“-Fotografen diese Orte überhaupt? Neben sehr bekannten Plätzen vor allem über Internetrecherche und regelmäßigen Austausch unter Fotografen. Nicht selten ist Windisch mit Kollegen unterwegs, wie bei jenem versteckten Schrottplatz in einer verlassenen Mine in Großbritannien (Bild oben rechts): „Wir haben dafür vor Ort Schlauchboote gekauft, sind 30 Meter runtergekraxelt, es war völlig finster. Die Szene selbst haben wir erst auf der Kamera gesehen.“ Allein die Vorbereitungen dafür dauerten rund zwei Wochen. Eines ist zumindest den meisten dieser Fotografen auch klar: Sie bewegen sich nicht selten in rechtlichen Grauzonen Richtung Illegalität.

Viele Uhren stehen auf fünf vor zwölf
Viele Uhren stehen auf fünf vor zwölf © Thomas Windisch/Brandstätter Verlag



Apropos Grauzonen, natürlich drängt sich die Frage nach Präsenzen, Geistern oder auch Spukhäusern auf. Die quittiert er übrigens mit nicht mehr als einem lauten Lachen. Eine Geschichte ist jedoch auch Thomas Windisch ein bisschen unheimlich: „Bei der Sichtung meiner Tausenden Fotos ist mir aufgefallen, dass alle bis auf zwei von mir fotografierten Uhren auf fünf vor zwölf stehen.“ Offenbar ein Scherzbold – auch wenn man an diesen Orten eines nicht sollte: Dinge verändern. Braucht es auch nicht, wie Windisch sagt, denn diese Orte verändern dich: „Du fährst dich selbst ein bisschen zurück und siehst viele Dinge mit einer gewissen Distanz, wirst zufriedener und das ist unbezahlbar.“

Bildband: "Wer hat hier gelebt"
Bildband: "Wer hat hier gelebt" © Brandstätter Verlag
"Vergessen und verdrängt" von Georg Lux und Helmuth Weichselbraun
"Vergessen und verdrängt" von Georg Lux und Helmuth Weichselbraun © Styria Verlag