Als systemische Familientherapeutin beschäftigen Sie sich oft mit Menschen, die unterschiedliche Blickwinkel auf ein Thema entzweit. Wie kommt das?
CARMEN UNTERHOLZER: In unserem Fach gehen wir davon aus, dass die Wirklichkeiten, in denen sich Einzelne bewegen, sehr unterschiedlich sind. Die Menschen, mit denen wir arbeiten, kommen mit ihren eigenen Vorstellungen von Realität zu uns. Das kann in psychischer Belastung oder Beziehungsproblemen gipfeln, wenn die Vorstellungen nicht mehr mit denen anderer zusammenpassen.


Wie reagieren Sie auf diese Diskrepanz?
CARMEN UNTERHOLZER: Im Beratungsprozess geht es nicht darum, herauszufinden, wessen Wirklichkeit die wahre ist und wer recht hat. Denn alle haben in ihrem individuellen Sinn recht. Wir schauen vielmehr darauf, welche Bedürfnisse und Sehnsüchte hinter den jeweiligen Wirklichkeitskonstruktionen stecken. Welchen Nutzen hat es für die Person, die eine bestimmte Auffassung der Realität vertritt?
Was ist das Ziel hinter diesen Fragen?
Im Kern geht es darum, die Wirklichkeiten unserer Klientinnen und Klienten zu ergänzen und so zu erweitern, dass sich für sie neue Handlungsspielräume ergeben. Indem wir nicht auf Fakten, sondern auf die Absichten hinter den Wirklichkeitskonstruktionen fokussieren, entsteht die Möglichkeit, Verständnis zu erzeugen – im Idealfall auf beiden Seiten des Widerspruchs.

Carmen Unterholzer
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Oft sind Meinungen und Blickwinkel derart verhärtet, dass es schwer vorstellbar erscheint, Verständnis für die Perspektive eines anderen aufzubringen.
CARMEN UNTERHOLZER: In Beratungsprozessen wird genau daran gearbeitet. Wir versuchen zu verstehen, was der Nutzen und der Sinn hinter der Wirklichkeit des jeweils anderen ist. Wenn wir das schaffen, zu verstehen, ist das schon eine erste Form der Annäherung – dann gibt es Kooperation statt Kampf, wenn wir versuchen, den anderen ein Stück weit besser zu verstehen.


Gerade in den Sozialen Medien wird dieser Kampf der unterschiedlichen Wirklichkeiten besonders heftig ausgefochten. Ist das eine neue Eskalationsstufe?
CARMEN UNTERHOLZER:Im Grad der Intensität ja, weil auch die Intensität der Kommunikation im Internet zugenommen hat. Aber wir haben uns schon immer unsere Wirklichkeiten selbst zurechtgebastelt, stark beeinflusst von Rasse, Klasse, Geschlechterzugehörigkeit. Seit dem Internet ist es jedoch noch leichter geworden, sich in seiner eigenen Welt, der „Bubble“, zu verkriechen – konsequent abgeschottet vom anderen, der immer fremder wird.


Welche Möglichkeiten hat da systemische Therapie, um diese „Blasen“ aufzustechen?
CARMEN UNTERHOLZER: Es hilft nichts, die Leute zu überzeugen, dass ihre Ansichten ein Blödsinn sind. Wir können ihre Wirklichkeiten aber mit anderen ergänzen. Wer sich zurückzieht, sucht nach Klarheit und Sicherheit. Wir erarbeiten mit Klienten Wege, wie man in diesen unsicheren Zeiten zu Sicherheit kommen kann.