Najd Boshi zieht mit der rechten Hand den Steuerhebel zu sich und das Passagierschiff beginnt rückwärts auf den Wogen des Tegernsees zu tanzen. „Ich mag Wellen“, sagt die Kapitänin und dreht das hölzerne Steuerrad, das nur unwesentlich kleiner ist als sie selbst. Das Schiff wendet. Die 42-Jährige stellt den Hebel auf volle Fahrt und steuert einmal quer über den See.

Sie lacht vergnügt, während sie von den technischen Finessen der Seefahrt erzählt. Man merkt ihr nicht an, dass sie erst seit wenigen Monaten hinter dem Steuer steht und eine Fahrt über das Wasser ihr Leben so nachhaltig verändert hat.

2014 aus Aleppo geflohen

Najd Boshi ist im Sommer 2014 aus Syrien geflüchtet. 21 Tage dauerte ihre Odyssee. Sie ließ ihre zwei Kinder, damals elf und sieben Jahre alt, mit dem Vater an einem sicheren Ort bei den Großeltern in Lattakia zurück und schlug sich mit der Hilfe von Schleusern bis nach Deutschland durch. Erst acht Monate nach dem Aufbruch konnte sie die Familie nach Bayern nachholen und die Kinder wieder in ihre Arme schließen. Sie waren aus der Hölle des Bürgerkrieges direkt in eines der schönsten Ferienidylle in Süddeutschland geflüchtet. Der Tegernsee ist die wichtigste Sommerfrische der Münchner.

"Ich habe oft auf den Bänken am Ufer gesessen und auf die Schiffe geschaut“, sagt die Kapitänin, während sie auf den Hafen am historischen Brauhaus zusteuert. „Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich einmal selbst eines fahren werde.“

Doch dann bekam sie am Anfang des Jahres 2017 eine Stelle bei der Bayerischen Seengesellschaft angeboten, die die Schiffe auf Ammer-, Tegern- und Königssee sowie auf dem Starnberger See betreibt. Als Kartenabreißerin war sie zwei Jahre lang für das Anlegen im Hafen, das Ein- und Aussteigen und das Kassieren zuständig.

Vor genau einem Jahr stand dann ihr Chef selbst am Steuer, sie stand neben ihm und er fragte überraschend: „Willst du nicht auch den Kapitän-Führerschein machen?“ Sie habe seine Frage mit einem Lachen quittiert – aber nur, bis sie merkte, dass das jetzt kein Scherz war. Mit einer Zusage zögerte Boshi allerdings. Sie traute es sich nicht zu, all diese Verantwortung, die Technik und auch der bayerische Dialekt, der oft für sie unverständlich aus dem Funkgerät quoll. „Er sagte mir, ich solle mir das überlegen“, erzählt sie. Es vergingen einige Wochen. Dann fragte er erneut, musste ihr dabei aber versichern, dass sich ein Mechaniker um die Technik kümmere, wenn denn wirklich einmal etwas kaputt sei am Schiff. Sie sagte zu und machte in drei Wochen das Patent. Sie war die allererste Kapitänin auf dem Tegernsee.

Schnee ist schön

Es ist nun wieder das Ende der Saison. Nur wenige Passagiere steigen ein und aus. Wolken stehen über den ansehnlichen Anhöhen, die den See im bayerischen Oberland umrahmen. „Aleppo ist trocken, da gibt es kein Wasser, keinen Regen und keinen Schnee. Und Schnee ist schön“, erzählt Najd Boshi. Sie hat nach dem Studium der englischen Literatur an der Universität der nordsyrischen Stadt als Verwaltungsangestellte gearbeitet. Nun chauffiert sie Touristen, Patienten und Kurgäste der drei Kliniken sowie auch viele heimische Stammgäste über den See.

Manchmal komme schon ein bayerisches Mannsbild daher und schaue ungläubig auf die Kapitänskabine, erzählt sie amüsiert. Doch die meisten Fahrgäste sagten ihr, die Rundtour habe von Herzen Spaß gemacht. „Einmal kam ein Fahrgast vor dem Aussteigen zu mir und sagte: So sanft anlegen kann nur eine Frau. Bei den Männern rumpelt es immer so.“

Dramatische Flucht nach Deutschland

Oft sprächen sie ältere Menschen an und wollten immer wieder auf ein Neues wissen, wo sie sind, wo sie aussteigen müssen oder wie lange es noch dauert. „Ich kenne das Gefühl, wenn man sich verloren fühlt und sich nicht sicher ist“, sagt sie über ihre Erfahrungen auf der Flucht, die fast tragisch endete. Ein Schleuser hatte sie auf einer unbewohnten Insel ausgesetzt mit wenig Wasser und kaum Nahrung. Nach drei Tagen machten die 42 Syrer ein großes Feuer. Hubschrauber der Küstenwache entdeckten und retteten sie.

Doch jetzt fühlt sie sich wohl in Bayern. Ihre Tochter ist gerade zum Schulaustausch in Finnland. Von ihrem Mann lebt sie mittlerweile getrennt. Doch er ist in Rufweite der Kinder. Und ein Kopftuch trägt sie auch nicht. Sie sei Muslimin, aber nicht gläubig. „Ich bin hier endlich in Freiheit, warum soll ich jetzt Kopftuch tragen, wenn ich schon in Aleppo keines getragen habe“, sagt sie und ruft in ihr Mikrofon: „Abfahrt Brauhaus Tegernsee.“