Die Bilder waren erschreckend, verstörend beinahe - vor allem für jene, die ohnehin schon von Flugangst geplagt werden: Nach einem gravierenden Triebwerksdefekt einer Boeing 777-200 der United Airlinesunweit von Denver (US-Bundesstaat Colorado) stürzten massive Bauteile - den unweigerlichen Gesetzen der Schwerkraft folgend - in Wohngebiete. Dass dabei nicht Menschen verletzt wurden, grenzt nach wie vor an ein Wunder. Die Menschen im Flugzeug selbst standen Todesängste aus, Flug 328 konnte aber sicher am Internationalen Flughafen Denver gelandet werden.

Boeing steht erneut in einem schlechten Licht - und der Ruf des mit 160.000 Mitarbeitern zweitgrößten Herstellers von Luftfahrtechnik ist nach zwei Abstürzen von 737-Max-Maschinen in Indonesien (2018, 189 Todesopfer) und Äthiopien (2019, 157 Todesopfer) ohnehin arg ramponiert: Der aktuelle Zwischenfall veranlasste mittlerweile mehrere Fluglinien, ihre Boeing 777-200-Modelle mit Triebwerken der Serie 4000 von Pratt & Whitney aus dem Flugplan herauszunehmen. Die US-Flugaufsichtsbehörde FAA kündigte umgehend eine Überprüfung der Flugtauglichkeit der entsprechenden Maschinen an. In Österreich haben die Austrian Airlines sechs Boeing "Triple-Seven" in ihrer Flotte.

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Thomas Friesacher, universitär zertifizierter Flugunfallermittler,  Luftfahrt-Sachverständiger, Lektor der FH Salzburg und selbst Pilot
Thomas Friesacher, universitär zertifizierter Flugunfallermittler,  Luftfahrt-Sachverständiger, Lektor der FH Salzburg und selbst Pilot © http://www.aeroxpert.eu

Thomas Friesacher,universitär zertifizierter Flugunfallermittler,  Luftfahrt-Sachverständiger, Lektor der FH Salzburg und selbst Pilot (www.aeroxpert.eu), ist anerkannter Experte auf dem Gebiet. Im Interview mit der Kleinen Zeitung gibt er eine Einschätzung zum gefährlichen Vorfall in den USA: "Natürlich ist man als Betreiber des Luftfahrzeuges für seine Flugtauglichkeit und seine Integrität verantwortlich - genauer gesagt: haftungsauslösend zuständig. Fluglinien reichen solche Dinge aber an Versicherungen weiter - in weiterer Folge gibt es dann behördenseitige Untersuchungen." Friesacher erinnert in diesem Zusammenhang an den Absturz einer Concorde in Paris im Jahr 2000, als eine Metallleiste einer anderen Maschine auf der Startbahn einen Reifen des Unglücksflugzeugs zerfetzte - und dessen Bruchstücke wiederum den Tank der Concorde beschädigten und in Brand setzten.

Triebwerksaufhängungen und Triebswerkgondeln müssten einen "Engine Failure" aushalten, betont der Experte. Er sieht daher im Augenblick eher den Turbinenhersteller Pratt & Whitney in der Bredouille. Nun müsse das Sicherheitsmanagementsystem greifen, das in der Luftfahrt dafür vorgesehen ist. Sollte festgestellt werden, dass Materialermüdung oder ein Baufehler kausaler Auslöser für den Defekt war, würden sofort die Betreiber aller entsprechenden Modelle weltweit kontaktiert werden. Die Vorgaben und deren Reichweite legen in diesem Fall die US-Flugaufsichtsbehörde Federal Aviation Administration (FAA) und Hersteller der betroffenen Komponenten fest. Auch Notanweisungen ("Emergency Inspection Orders") seien hier denkbar - dann müssen Maschinen sofort nach der Landung inspiziert werden.

Es sei nicht völlig auszuschließen, dass sich Flugzeugteile ablösen und dann zu Boden gehen. Auch Triebwerksausfälle wie nun in Denver seien theoretisch möglich, laut Statistik aber absolute Ausnahmen. Die Boeing 777 - seit 1995 im Linienbetrieb - sei grundsätzlich ein "immens sicheres Flugzeug", so Friesacher, der auch auf die sehr engmaschigen Wartungszyklen seriöser Fluglinien verweist. Zudem seien An- und Abflüge über besiedeltem Gebiet in Europa im Unterschied zu den USA die absolute Ausnahme - der Luftfahrexperte erwähnt hier London City. In fast allen europäischen Städten wolle man mit Flughäfen längst "aus dem Wohngebiet raus" - schon aus Gründen der Lärmverschmutzung.

Natürlich müsse nun auch dem Flugzeughersteller daran gelegen sein, den Vorfall in Denver aufzuklären, so Friesacher. Er ortet durchaus "strukturelle Probleme in der Organisation von Boeing" und sieht ein "Problem in der Aufsicht und Fehlerkultur". Auch was die Abstürze der 737-Max-Maschinen anbelangt, sei man lange nicht an die Öffentlichkeit gegangen, was interne Verfehlungen betrifft. Wenn dann nach und nach doch nach außen sickere, was unternehmensintern nicht funktioniert habe, sei das ein "PR-Mega-Gau". Dies widerspreche jeder Notfallstrategie. Wichtig sei auch eine korrekte Zulassungskultur, wie man bei der 737-Max sehen musste, betont Friesacher.

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Fluglinien könnten derzeit - aufgrund der coronabedingt ausgedünnten  Flugpläne - relativ gut auf den Einsatz der betroffenen Boeing 777-200 verzichten, bilanziert Friesacher. Selbst die Emirates Airlines mit einer "Triple-Seven"-Flotte könne man Triebwerksinspektionen derzeit besser planen. Die Boeing Company ließ auf ihrer offiziellen Twitter-Präsenz in einer knappen Mitteilung wissen, dass man das Aussetzen des Flugbetriebes des nun betroffenen Modells unterstütze, solange die Untersuchungen andauern.