Die Rolle Pius XII. während Nazi-Herrschaft und Holocaust ist umstritten. Als Benedikt XVI. 2009 Eugenio Pacellis Seligsprechung vorantrieb, protestierten jüdische Verbände. Wie reagiert die jüdische Gemeinschaft auf die Öffnung der Vatikanarchive? Julian-Chaim Soussan ist einer der beiden Oberrabiner der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main. 

Warum ist die Öffnung der Vatikanarchive zum Pontifikat Pius XII. so wichtig?

Julian-Chaim Soussan: Als jüdische Gemeinschaft interessiert uns vor allem das Verhalten Eugenio Pacellis während der Shoa. Ich habe als Jugendlicher Rolf Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ gelesen. Der Vorwurf, Pius XII. habe zum Holocaust geschwiegen oder mehr tun können, steht seither im Raum. Die Öffnung der Archive bietet die Möglichkeit, dass wir in dieser Frage Gewissheit bekommen.

Das ist aber nicht der einzige Grund?

Soussan: Es gibt ein großes Interesse an der Frage, was der Vatikan und der Papst angesichts dieser Situation hätten tun können oder tun müssen. Wir wissen von vielen Priestern, auch katholischen, die Juden gerettet haben. Wie ist das Verhalten Pius XII. und des Vatikans insgesamt in dieser Frage einzuschätzen?

Gibt es auch Zweifel, die die Nachkriegszeit betreffen?

Soussan: Wir würden gerne wissen, warum Pius XII. auch nach 1945 keine Stellung zur Shoah bezogen hat. Desweiteren ist Vieles im Hinblick auf die Gründung des Staates Israel 1948 nicht geklärt. Welche Überlegungen und Stellungnahmen gab es dazu von Pius XII.? Wichtig ist auch zu wissen, welche Rolle die katholische Kirche und ihre zentralen Figuren bei der Fluchthilfe für Nazi-Täter aus Europa spielte.

Warum ist den Opfern an der Klärung dieser Fragen gelegen?

Soussan: Ich denke, man sollte nicht meinen, den Juden damit einen Gefallen tun zu müssen. Es sollte ein eigenes Interesse der Kirche und der Gesellschaft daran geben, diesen offenen Fragen auf den Grund zu gehen. Es ist wichtig, dass die Wahrheit herausgefunden wird.

Aber warum dieses Interesse für einen Papst?

Soussan: Die Opfer der Shoa wurden nicht nur verfolgt, sie haben nicht nur Jahrzehnte lang bis in die mittlerweile dritte Generation gelitten. Ihnen wurde auch nicht immer Gehör geschenkt. Und bis heute gibt es Holocaust-Leugner. Es ist weiterhin von großer Bedeutung, dass alle Details dessen, was geschehen ist, ans Licht kommen. Insbesondere für Holocaust-Überlebende und ihre Nachkommen ist es das Mindeste, zu wissen, wer daran aktiv und passiv beteiligt war.

Die Erforschung hat also mit einem Bedürfnis nach Gerechtigkeit zu tun?

Soussan: Gerechtigkeit ist nach so vielen Jahren schwer herzustellen. Die Zahl der verurteilten Nazitäter und ihre Bestrafung sind im Vergleich zur Dimension der Verbrechen geradezu verschwindend. Das Mindeste ist, wenigstens Klarheit über das zu bekommen, was passiert ist.

Welche Rolle spielt dabei Pius XII.?

Soussan: Die Frage ist, welche Mitverantwortung der Papst trug. Was tat er in seiner exponierten Position zur Verhinderung der Taten? Jeder Mensch trägt in seinem Bereich Verantwortung. Je mehr Einfluss eine Person hat, desto mehr Verantwortung trägt sie auch. Pius XII. hatte auch im Hinblick auf die Ideale seiner Kirche die Pflicht, alles zu tun, um Menschenleben zu retten. Wenn jemand mitverantwortlich ist für Leid, sollte man das klar benennen. Deswegen sind die Öffnung der Archive und die Forschung zum Pontifikat von großer Bedeutung.