Im Silicon Valley gibt es in Unternehmen bereits die Funktion eines „Direktors für Achtsamkeitspraxis“. Beim Forum Alpbach wird über Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst referiert. Worauf führen Sie es zurück, dass das Thema Achtsamkeit, über das Wirtschaftskapitäne noch vor wenigen Jahren den Kopf geschüttelt haben, derart massiv in den Mittelpunkt gerückt ist?

Jutta Vogt-Tegen: Unternehmen springen auf, weil es hohe Raten von Burnout gibt und Achtsamkeit den Heilungsprozess unterstützt und präventiv wirkt. Außerdem bietet Achtsamkeit die Möglichkeit einer besseren Kommunikation. Je achtsamer Mitarbeiter geschult sind, desto achtsamer läuft die Kommunikation ab.

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit diesem Thema. Einer Ihrer Appelle bei Vorträgen lautet: Passt du nicht auf, wirst du zum Galeerensklaven im eigenen Boot. Passen wir zu wenig auf?

Ich denke, dass wir zu viel in unserem Leben nach Mustern ausrichten und damit zu oft unbewusst handeln. Je mehr wir darauf achten, wie unsere inneren Mechanismen ticken, desto eigenständiger können wir auch unser Leben in die Hand nehmen.

Sollten wir uns eher mehr Achtsamkeit wünschen?

Wir sollten uns eigentlich auch mehr Toleranz uns selbst gegenüber wie auch einen liebevolleren Umgang mit uns selbst und eine liebevollere Annahme von uns selbst wünschen. Das garantiert auch eine dauerhaftere Zufriedenheit und ist nachhaltiger als Glück. Dauerhafte Zufriedenheit erleichtert vieles. Wenn wir das schaffen, sind wir auch automatisch toleranter und liebevoller im Umgang mit anderen Menschen. Viele Aggressionen resultieren aus unserer eigenen Unzufriedenheit, weil wir uns permanent mit anderen vergleichen, nie schön, schlank, erfolgreich genug sind.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Zeitlos im Hier und Jetzt“, dass wir Verhaltensmuster oft nicht mehr hinterfragen. Warum fällt uns das so schwer?

Verhaltensmuster geben Sicherheit und sind damit wichtig. Es ist aber auch immer einfacher, ausgetretene Wege zu gehen, als sie einmal zu hinterfragen. Erschwerend kommt hinzu, dass wir heute durch die Digitalisierung ganz kurze Aufmerksamkeitsspannen haben. Wir sind nicht mehr gewohnt, uns mit uns selbst zu beschäftigen, weil wir permanent mit anderen Dingen unterwegs sind.

Glauben Sie, dass wir uns früher mehr hinterfragt haben?

Wir hätten heute den großen Luxus, uns mehr hinterfragen zu können, entfernen uns aber durch die Schnelllebigkeit mehr und mehr von uns selbst. Leider neigen wir dazu, uns im täglichen Hamsterrad zu drehen, ohne auf die Idee zu kommen, kurz einmal hinauszuspringen. Früher war man näher bei sich und hat Signale seines Körpers wie Müdigkeit, Erschöpfung mehr gespürt.

Was raten Sie?

Ein Prozent des Tages, rund 15 Minuten, als Ich-Zeit einzuplanen und einmal nicht in die Kantine essen zu gehen, sondern 15 Minuten im Park spazieren zu gehen oder sonst etwas zu verändern wie die Sitzplätze am Familientisch. Das hört sich komisch an, aber man kommt damit mehr ins Spüren. Wenn alles immer in gleichen Bahnen abläuft, sind unsere Sinne nicht mehr gefordert. Irgendwann spüren wir dann auch nicht mehr, wann unsere Grenzen überschritten sind, weil wir die Signale des Körpers nicht mehr bemerken.

Eine geänderte Tischordnung in der Familie wird kaum helfen, Grenzen wahrzunehmen.

Nein, aber mit solchen kleinen Übungen werden wir feinfühliger. Wenn wir immer wieder das Gleiche machen, fühlen wir nichts mehr. Warum hat man im Urlaub oft gute Ideen? Das kommt nur davon, weil wir mit neuen Sinneseindrücken aus dem täglichen Trott herauskommen.

Wir bräuchten öfters im Leben Phasen des produktiven Leerlaufs?

Ja, man spricht hier von der gesunden Langeweile, nichts zu tun. Wenn wir uns selbst beobachten, sehen wir: Wir sind ständig dabei, irgendetwas zu machen. Wir räumen auf, wir schauen auf das Handy, kochen, reden, schicken gleichzeitig WhatsApp-Nachrichten. Unser Geist ist permanent in Bewegung, wir sind damit immer im Funktionsmodus. Wer damit beginnt, täglich in Stille fünf Minuten zu meditieren, wird erst merken, wie gewohnt er ist, immer etwas zu machen. Fünf Minuten sind nicht viel und haben dennoch eine enorme Wirkkraft. Indem man bewusst und achtsam atmet, beruhigen sich der Geist und die Emotionen, man sieht klarer und kann bewusster handeln. Und: Egal wie stressig ein Tag ist, man hat immer die Möglichkeit, sich für eine oder zwei Minuten über den Atem mit seiner inneren Kraftquelle zu verbinden.

Sie schreiben, dass mit Achtsamkeit Stress massiv reduziert werden kann und dass vor allem die Atmung die Brücke zum Körper ist. Bewusstes Atmen als Kampfmittel gegenüber Stress und Überforderung?

Kampfmittel würde ich nicht sagen. Es geht nicht ums Kämpfen, es geht um die Annahme, was ist. Es geht darum, in manchen Situationen tief und bewusst zu atmen. Damit kann jede noch so belastende und bedrückende Situation bewältigt und angenommen werden. Der Atem hilft, uns einmal zu erden. Je achtsamer wir uns selbst beobachten, je bewusster wir unsere Emotionen wahrnehmen und erkennen, warum wir wütend, verärgert oder gekränkt reagieren, desto klarer können wir auch erkennen, was uns stresst.

In „Zeitlos im Hier und Jetzt“ zitieren Sie einen buddhistischen Meditationslehrer mit dem Satz: „Letztendlich ist Glück eine Frage des Wählens zwischen dem Unbehagen, sich seiner geistigen Nöte bewusst zu werden, und dem Unbehagen, von ihnen beherrscht zu werden.“

Wir haben immer die Wahl und Achtsamkeit ist eine enorm kraftvolle Methode, innere Vorgänge wahrzunehmen und damit selbstbestimmter zu leben. Entscheidend beim Umgang mit unseren Nöten ist die Haltung. Vieles hat weniger mit den Umständen und Gegebenheiten im Außen zu tun als mit unserem Umgang damit.

Verraten Sie uns, welche Übung Ihnen am meisten geholfen hat, um aus dem täglichen Hamsterrad herauszukommen?

Zum einen ist für mich die Natur eine große Heilquelle. Da entsteht eine geistige Weite und es relativieren sich viele Dinge, sofern man wirklich mit sich alleine ist. Was mir auch geholfen hat, ist das Schreiben eines Dankbarkeitstagebuches. Ich notiere jeden Abend drei Dinge, die an diesem Tag passiert sind und für die ich dankbar bin. Das sind fünf Minuten, die eine andere Einstellung zum Tag bringen, weil die positiven Dinge eine höhere Wertschätzung erhalten und nicht die negativen, die uns aufgeregt haben.

© KK

Zeitlos im Hier und Jetzt. Wie wir Ruhe und Gelassenheit finden. Jutta Vogt-Tegen. 136 Seiten (mit Achtsamkeitsübungen). Für Kleine-Zeitung-Vorteilsclub 9,90 Euro, Nicht-VTC 14,90 Euro. Erhältlich exklusiv in den Büros der Kleinen Zeitung und auf shop.kleinezeitung.at