Wenn das so weitergeht, dreht er durch. Einmal Beifahrer sein in einer echten Werks-Alpine, für den jungen Burschen geht ein Traum in Erfüllung. Die Einladung des Industriellen aus Wien, bei der Semperit-Rallye das ­Gebetsbuch lesen zu dürfen, lässt ihn alles andere vergessen. Doch schon während des Trainings stellte sich heraus, dass der Fahrer mit dem Tempo des Co-Piloten einfach nicht zurechtkam. Konflikte – unvermeidbar. „Er meinte zu mir völlig ruhig, dass ich das nie die ganze Rallye durchhalten werde und er sich lieber einen anderen für diesen Job sucht", erzählt Helmut Deimel über eine der größten Enttäuschungen seines Lebens. „Die A110 mit 1,8-Liter-Motor und 175 PS gab Alpine ja nur in ganz seltenen Fällen an Privatfahrer und schon beim Aufschriebmachen ging das Auto sensationell gut." Doch selbst diese herbe Absage änderte nichts an seiner Leidenschaft für die drahtigen GFK-Autos aus dem französischen Dieppe, die ungefähr mit der Alpenfahrt 1972 begann und ihn nie mehr loslassen sollte.

Und so stehen wir heute, knapp ein halbes Jahrhundert später, in den Weinbergen oberhalb von Perchtoldsdorf und neben Deimels persönlicher 1600er Berlinette von 1972. In klassischem Blau strahlt ihre brandneue Nachfolgerin in der warmen Frühlingssonne: die Alpine A110. Der Name gleich, die Statur ähnlich schlank, die Linien athletisch wie eh und je und befeuert von einem 1,8-Liter-­Motor mit 252 PS. Renaults lang erwartete Antwort auf das ewige Thema des leichten und leistbaren Sportwagens, der seine Dynamik nicht aus reiner Leistung, sondern aus Leichtbau und Fahrverhalten schöpft. Doch hat die Operation geklappt? Und überhaupt: Kann man eine Legende neu auflegen? Denn so subtil die optischen Änderungen erscheinen mögen, unter der schicken Hülle blieb keine Schraube gleich: Bestand die alte A110 aus einem soliden Stahlrahmen mit aufgesetzter Kunststoffkarosserie, baut die neue auf einer selbsttragenden Karosserie aus Aluminium auf.

Der Motor hat natürlich keine Vergaser und sitzt nicht mehr im Heck, sondern bekam eine Turboaufladung verpasst und steckt schlau positioniert vor der Hinterachse in der Mitte des Fahrzeugs. Das Schalt­getriebe musste einem Doppelkupplungsgetriebe weichen, die 13-Zoll-Räder gewaltigen 17-­Zöllern und aus dem ehemals schlichten Armaturenbrett, bestückt lediglich mit Schaltern für die absoluten Basisfunktionen wie Licht, Scheibenwischer und Blinker, wurde im Jüngling ein aufwendiges Entertainmentsystem mit Touchscreen und kluger Smartphone-Anbindung. In Anbetracht ihrer Ausstattung liegt das Gewicht mit 1080 Kilogramm auf erstaunlich niedrigem Niveau – wenngleich es gegen die 650 Kilo der Ur-Alpine wie das einer ausgewachsenen Limousine wirkt. Die Frage sei also erlaubt: Wie viel Alpine steckt noch in der neuen Alpine?

Wer kann diese Frage besser beantworten als einer, den die Rallye-Alpines so sehr beeindruckten, dass er zum Filmemacher wurde und diesen Sport über Jahrzehnte begleitete? Und der sich von seiner ersten richtigen Gage 1982 gleich seine Berli­nette in die Garage stellte? Eben. Also, Herr Deimel, dürfen wir bitten? „Was ich schon einmal sehr sympathisch finde, ist die Tatsache, dass sie nach wie vor in Dieppe gebaut wird." Jenes beschauliche Dörfchen in Frankreich, in dem der Re­nault-Händler Jean Rédélé 1955 die Marke Alpine gründete, um leichte Rennwagen zu bauen. Die A110 war Rédélés Meisterstück und revolutionierte die Rallyewelt. In den 1960ern zählte die kleine Heckmotorflunder zu den absoluten Siegerautos und war das erste Modell überhaupt, mit dem man Kurven schneller fahren als denken konnte.

Die Alpines waren immer schon mit Renaulttechnik bestückt. 1973 übernahm der Autokonzern den Spezialitätenladen dann. Die folgenden Fahrzeuge konnten jedoch nie in die Fußstapfen der A110 treten, weder bei den Verkaufszahlen und schon gar nicht bei den sport­lichen Erfolgen. 1992 war ­endgültig Schluss und nach ­Modellen wie der A310, der V6 und zuletzt der A610 rollten an dem legendären Standort nur mehr „normale" Renaults vom Band, wenn auch immerhin die sportlichsten Versionen.

Alpines in ihrem natürlichen Habitat: auf der Landstraße
Alpines in ihrem natürlichen Habitat: auf der Landstraße © Wolf

Die erste Sitzprobe liefert schnell echte Aha-Erlebnisse: „Da ist natürlich viel mehr Platz als in meiner alten. Da pickt man nicht so aneinander. Und es regnet auch nicht überall hi­nein." Die Verarbeitungsqualität ist im Vergleich nicht von einer anderen Welt, sondern fast schon aus einer anderen Galaxie. Und dass die Neuauflage in der Länge um 33, in der Höhe um 13 und in der Breite um 20 Zentimeter zulegte, mag den maßgeschneiderten Charakter des Originals zwar etwas aufweichen, den Rennfahrer gerne damit beschrieben, dass man sich eine A110 wie einen Handschuh anzog. Aber das bevorzugte Einsatzgebiet der neuen ist zum einen die Straße und zum anderen sind wir alle seit den 1960ern ein wenig bequemer geworden. Wir schätzen die komfortablen Seiten des Lebens, wollen eine Klimaanlage nicht mehr missen, uns würdevoll in Abendrobe in ein Sportcoupé einfädeln und außerdem bietet die moderne Technik ja auch gewaltiges Potenzial für coole Spielereien. „Toll ist der Knopf, über den man den Motorsound variieren kann. Das Röcheln aus dem Auspuff ist dann schon geil", merkt der Niederösterreicher an. Gleichwohl wir feststellen müssen, dass das heisere Grummeln seiner blauen Flunder dann doch eine völlig andere Geschichte ist. Kein Wunder: Der Auspuff besteht aus nur einem knapp geschnittenen Topf und die Doppelvergaser untermalen mit ihrem aggressiven Schnorcheln das Klangbild, je mehr man aufs Gas steigt. „Das ist schon ein irres Gefühl, wenn der Motor hinter dir brüllt", fügt Deimel hinzu, aber den verhaltenen Sound darf man der Neuauflage nicht zum Vorwurf machen. Strengere Auflagen, sowohl in Sachen Geräuschentwicklung als auch beim Abgasverhalten, lassen einfach nicht mehr Klang zu.So, aber jetzt, wir starten zu einer kleinen Ausfahrt. Es geht Richtung Wienerwald, die Straßen werden leerer, geschwungener, verwunschener. Der Feierabendverkehr hat sich in die Vorstädte zurückgezogen und wir können den hübschen Französinnen ein wenig Auslauf spendieren. „Die beschleunigt schon wie der Teufel", zeigt sich Deimel vom Schub des 2018er-Modells beeindruckt. Kein Wunder, werken hier doch 320 Newtonmeter Drehmoment schon ab 2000 Umdrehungen. Nicht einmal bei Gangwechseln verliert man viel Zeit, denn das Doppelkupplungsgetriebe erledigt dies ohne Zugkraftunterbrechung. So entsteht ein stets gespanntes Band der Beschleunigung und man kann sich voll und ganz aufs Fahren konzen­trieren. „Toll sind die verschiedenen Fahrmodi, die man auf Knopfdruck einstellen kann, aber was viel wichtiger ist: Du hast sofort Vertrauen in das Auto", stellt der Filmemacher fest, der es wissen muss. Schließlich ist seine Alpine alles andere als Garagengold. Ritte über verschneite Passstraßen gehörten ebenso dazu wie Rallyes auf Eisseen, natürlich stil­echt mit Spikereifen. „Nachdem ich sie gekauft hatte, habe ich sie einmal komplett überholen lassen. Und als wir sie dann abgeholt haben, sind wir gleich eine Woche durch ganz Österreich damit gefahren."

Und in den letzten Jahrzehnten zeigte sich die A110 erstaunlich unkapriziös. Eine kleine Reparatur am Motor, einmal den Rahmen entrosten und aufarbeiten, ansonsten gab es nur die üblichen Servicearbeiten. Die 138 PS des 1,6-Liter-Triebwerks sind nach heutigen Maßstäben zwar nicht mehr die Welt, aber wie gesagt: Sie müssen nur 650 Kilo vorantreiben und entsprechend fidel fühlt sich die alte Dame auch heute noch an. Die Lenkung direkt wie ein Verhör bei Scotland Yard, das Fahrwerk trocken wie ein Martini, doch der Laie hätte schon Probleme, auszuparken – wo bitte schön ist der Rückwärtsgang? „Dazu muss man zuerst den kleinen Metallbügel wegklappen. Das war keine Diebstahlsicherung, sondern eine Vorrichtung, die dazu diente, dass man im Renneinsatz nicht versehentlich den Retourgang erwischt."

Für den erfahrenen Filmemacher, der nicht nur Audi in der Rallye-WM, sondern auch Mercedes über Jahrzehnte in der DTM und der Formel 1 begleitete, ist dieses Manöver so selbstverständlich wie das Filmrollentauschen bei seiner geschätzten Arriflex-16-Millimeter-Kamera. Weil über das klassische, analoge Filmformat geht ja doch nichts. Verhält es sich bei den Autos ähnlich? Nichts gegen die neue Alpine, aber seinen „blauen Reiter", dessen Wert schon längst die 100.000-Euro-Marke überschritten hat, würde er für gegen sie nicht eintauschen. „Es war für mich immer schon ein tolles Gefühl, in das Auto einzusteigen. Und das Erscheinungsbild fasziniert mich noch heute. Der Wagen geht dir ja nur bis zum Nabel." Doch eine Eigenschaft gibt es, die die zwei Generationen der Vive-le-Sport-Bewegung verbindet: das freundliche Wesen. „Wenn ich mit meiner he­rumfahre, sehe ich nur freundliche Gesichter. Damit fällst du einfach immer auf." Genauso wie mit der Neuauflage, die auch die jungen Generationen begeistert. Wie bei der Alpenfahrt 1972.