Nun, plötzlich braucht keiner eine Ausrede. In Zeiten einer weltweiten Pandemie, des permanenten Aus-dem-Weg-Gehens gibt es keinen besseren Platz zur Abgrenzung als das eigene Auto. Natürlich wäre es im Sinne der Umwelt besser, öffentliche Verkehrsmittel für den Weg in die Arbeit zu nutzen, als im Stau zu stehen. Aber, na ja, es ist ja nur vorübergehend. Ein kurzsichtiger Trugschluss, der in Österreich Tradition hat. „Wir haben das Problem, in den letzten 50, 60 Jahren Autostrukturen geschaffen zu haben“, sagt Harald Frey, Wissenschaftler für Verkehrs­planung und Verkehrstechnik an der TU Wien. „Zwei Drittel der Fahrten beginnen und enden bei der eigenen Wohnung. Wenn ich einen schnell erreichbaren Stellplatz habe, die nächste Haltestelle aber zwei Kilometer entfernt ist und der Bus nur alle 30 Minuten fährt, brauchen wir über die Wahl des Verkehrsmittels gar nicht erst sprechen. Ich stolpere einfach in mein Auto, das ist am leichtesten.“

Und selbst wenn es nur kurze Fahrten zum nächsten Einkaufszentrum sind – die Folgen sind weitreichend. „Es beginnt sich eine Spirale zu drehen, die es immer schwieriger macht, aus dieser Zwangsmobilität wieder auszusteigen. Es entstehen neue Strukturen speziell für das Auto, angebunden am Rande einer Siedlung oder in Gewerbeparks, die man zu Fuß oder mit dem Rad nur schlecht erreichen kann. Gleichzeitig verschwinden kleine Geschäfte, Greißler, das Postamt – Ortskerne sterben einfach aus. Deswegen ist es auch nicht sinnvoll, auf einen Einzelnen zu zeigen. Man muss beginnen, die grundsätzlichen Strukturen zu ändern“, sagt Frey.

Es gibt Handlungsbedarf. Allein, um die verschärften EU-Klimaziele für 2030 zu erreichen, müssten laut einer Studie der European Climate Founda­tion in zehn Jahren 60 bis 88 Prozent aller Neuwagen ohne klimaschädliche Abgase fahren. Anders ließe sich die Vorgabe, um 55 Prozent weniger Treibhausgase auszustoßen als 1990, nicht erreichen. Das Gleiche gilt für Gebäude, Kraftwerke, Industrie und Landwirtschaft. Und es bedeutet: keine Mobilitätswende ohne Wohnwende

Keine Infrastruktur

Das Phänomen der Verhüttelung ist gerade in Österreich besonders ausgeprägt. Siedlungen im Niemandsland, wo kein Funken von Infrastruktur besteht, gibt es im ganzen Land, und laut der Monitoringgruppe Klimaübereinkommen des Verkehrsministeriums hat Österreich den höchsten Grad an Bodenversiegelung/Flächen­verbrauch pro Kopf Europas. „Die Raumordnung besagt zwar, dass sparsam mit dem Boden umgegangen werden soll. Sie ist aber zahnlos, da sie de facto auf Gemeindeebene umgesetzt wird. Da gibt es keine wesentlichen Steuerungs- oder Kontrollinstanzen. Und so kommt es, dass unter den Gemeinden Konkurrenzsituationen entstehen. Sie saugen sich gegenseitig Kaufkraft ab“, erklärt Frey. „Man denke an Parndorf im Burgenland. Das Einzugsgebiet des Outlets liegt bei bis zu 100 Kilometern.“

Wenn es allerdings darum geht, die passende Infrastruktur zu schaffen, kann man die Verantwortung leicht auf eine höhere Ebene schieben. „In Österreich gibt es dieses Problem nicht nur zwischen Gemeinden und Land, sondern auch zwischen Land und Bund. In Wien zusätzlich noch zwischen Bezirken und Stadt. So kann man mehrere benötigte Umfahrungsstraßen zu einer Autobahn zusammenhängen und sich mit der Bitte an den Bund wenden, sie zu bauen. Und die Kosten muss man nicht selbst tragen“, erläutert Frey.

Covid-19 hat aber nicht nur gezeigt, dass das eigene Auto eine große blecherne Schutzmaske ist, sondern auch, wie praktisch es ist, alles Wichtige in der Nähe zu haben. „Man hat eine Lehre aus der Lockdown-Phase gezogen. Nämlich dass Wohngebiete mit einer Nahversorgung, die zu Fuß erreichbar ist, für die Bevölkerung von Vorteil ist“, befindet Stefan Seer, Leiter der Forschungsgruppe Integrated Mobility Solutions beim AIT, dem  Austrian Institute of Technology. Es hat sich aber auch das Phänomen der Pop-up-Radwege oder Pop-up-Parks gezeigt, die gerade sehr in Mode sind. „Die Maßnahmen sind deswegen so interessant, weil man einfach mit Farbe etwas auf die Straße zeichnet. Größere Infrastrukturmaßnahmen sind ein viel längerer Prozess“, sagt Seer.

Die Akzeptanz gerade des autofahrenden Publikums ist bei solchen Pop-ups nicht immer sicher. „Es gibt Gruppen, die stark auf das Auto fokussiert sind. Da tut man sich sehr schwer. Aber es gibt auch andere, die man leichter umstimmen kann. Die Frage ist dann nur, mit welchen Incentives man arbeiten muss, um dieses Umdenken auszulösen“, so Seer. Ein Mittel zum Beispiel: Kommunikation und Mitgestaltung. „Man sollte für Bauvorhaben nicht nur Experten zurate ziehen, sondern auch Bürger mit einbeziehen.“

Mehr Platz für Menschen

Kurz gesagt: Den Platz, den parkende Autos beanspruchen, völlig neu nutzen. Den Verkehr nicht ausschließen, aber beruhigen und den öffentlichen Raum somit lebenswerter machen. Wie gut das funktionieren kann, zeigen Beispiele aus Spanien: sogenannte Superblocks. „Eine Idee aus Barcelona, wo man Grätzl, bestehend aus mehreren Wohnblöcken, in denen zuerst der Verkehr priorisiert war, zusammenfasst und durch das Ausschließen des Autoverkehrs mehr Platz für die Menschen bleibt. Und die Lebensqualität dadurch deutlich erhöht wird.“

Als heimisches Beispiel nennt Seer Wien: Es wurde für drei Bezirke untersucht, wie Mischnutzungsflächen Fußgängern und Radfahrern gleichermaßen dienen können. Diese Reduktion des Individualverkehrs hat sich als sehr positiv herausgestellt. „Eingesparte Parkplätze bedeuten mehr Platz für Anrainer. Versiegelte Flächen werden Freiräume, Hitze-Spots kann man mit Begrünung entgegenwirken. Das bedeutet ein ruhigeres und kühleres Wohnumfeld und fördert den sozialen Austausch.“ 

Wir formen unsere Gebäude, danach formen sie uns. Wie man den öffentlichen Raum wahrnimmt, erkläre ich gerne mit diesem Zitat von Winston Churchill“, so Seer. „Wie man eine Gegend gestaltet, wie sie auf die Bewohner abfärbt, ist wichtig, um diese zu verstehen, um auf deren Bedürfnisse einzugehen. So kann man mit Design- und auch Akustikelementen viel beeinflussen. Zum Beispiel, ob die Leute schneller oder langsamer gehen oder ob sie zueinander Abstand halten. Das ist derzeit aktueller denn je.“ Studien helfen, die richtigen Schlüsse zu ziehen: Seer: „Es ist wichtig, sich möglichst früh die einzelnen Varianten anzuschauen. Maßnahmen können schließlich auch Rebound-Effekte haben. Werden Autos besser und sauberer, kaufen sie die Leute wieder verstärkt, was wiederum ein Mehr an Verkehr bewirkt.“

E-Scooter und Mitfahrbörsen

Tatsächlich ist es so, dass sich laut einer Umfrage der Verkaufsplattform autoscout24.at 54 Prozent der Befragten einen Umstieg auf ein verbrauchsärmeres Modell vorstellen könnten, 60 Prozent auf ein Fahrzeug mit alternativem Antrieb. 51 Prozent begrüßen es, wenn mehr Fahrräder und E-Scooter in den Städten unterwegs sind. Hingegen können sich 60 Prozent das Benutzen von Carsharing-Diensten oder Mitfahrbörsen nicht vorstellen. Der Wunsch nach dem eigenen Fortbewegungsmittel ist ungebrochen.

Was automatisch zur Elektromobilität führt. „Es gibt zwar massive Bestrebungen, die Mobilität bis 2040 klimaneutral zu machen. Das gelingt aber nur, wenn man den motorisierten Individualverkehr elektrisch antreibt“, fasst Christian Pfaffenbichler, Universitätsassistent am Institut für Verkehrswesen auf der Boku in Wien,  zusammen. Aber: „Diese Fahrzeuge sind noch sehr teuer, aber die Betriebskosten sehr niedrig, was politisch und gesellschaftlich  zum Problem werden kann. So gäbe es den Rebound-Effekt, dass es wieder attraktiver wird, den eigenen Pkw zu nutzen. Und vor allem fallen dann die Einnahmen aus der Mineralölsteuer weg. Man müsste zum Beispiel ein kilometerbasiertes Roadpricing überlegen. Das generelle Platz- und Stauproblem würde sich sonst nicht lösen lassen.“

Auch für Pfaffenbichler ist einer der zentralen Punkte das Ansiedeln in abgeschiedenen Siedlungen, die die Bewohner vom Auto abhängig machen. Und des Rätsels Lösung ist es nicht allein, das öffentliche Netz auszubauen. Als problemlos umsetzbar sieht Pfaffenbichler auch, öffentliche Flächen künftig anders zu nutzen. „Das Abstellen von Privatautos im öffentlichen Raum sollte grundsätzlich überdacht werden. Das ist viel wertvolle Fläche. In Tokyo zum Beispiel ist das Parken auf der Straße komplett unmöglich.“ Angesichts der Parkplatzsituation ein für Graz, Linz und auch Wien nur schwer vorstellbares Unterfangen. Und dennoch gibt es heimische Beispiele, wie etwa die Mariahilfer Straße, die zeigen, wie schnell man sich an derartige Rahmenbedingungen gewöhnen kann.

Doch das Umdenken setzt langsam ein. Frey: „St. Pölten hat beispielsweise die Stellplatzverpflichtung reformiert: weniger Stellflächen im innerstädtischen Bereich, dafür wurde viel in den öffentlichen Verkehr investiert. Und neue Supermärkte in Tirol und Salzburg bauen nicht mehr großflächige Parkplätze, sondern kompaktere Varianten wie Tief- oder Dachgaragen.“

Verkehrs­erregerabgabe

Umso skurriler, dass ein probates Mittel seit über 20 Jahren zur Verfügung steht, es aber kaum angewendet wird. Frey: „Seit 1999 gibt es die Verkehrs­erregerabgabe. Eine Art Solidarabgabe, die das Ungleichgewicht zwischen Gratis-Stellflächen am Stadtrand und bewirtschafteten Innenstadtparkplätzen ausgleichen kann.“ Mit den so lukrierten Einnahmen könnten etwa Alternativen zu eingestellten Regionalbahnen geschaffen werden. Für Frey aber nur die halbe Miete: „Es gilt die ,Push and pull‘-Regel. Einerseits in Bus und Bahn investieren, andererseits auch die Einschränkung des Individualverkehrs. Damit es zumindest ein bisschen unbequemer wird.“        

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